Königin Lear
von Tom Lanoye nach William Shakespeare
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
Die absolute Monarchie wird in diesem Stück in die oberste Etage eines Wolkenkratzers übertragen. Dort schwingt Elisabeth Lear, Kopf des Wirtschaftskonzerns Lear Inc., in einer männerdominierten Branche das Zepter der Macht. Der Weg, den sie zurückgelegt hat, um in diese Position zu kommen, macht sie stolz. Er ist aber auch von Zerfall gekennzeichnet.
Nun, am Ende ihres Lebens, trifft sie die Entscheidung, ihr Erbe unter ihren drei Söhnen aufzuteilen. Nur eines wünscht sich Elisabeth: Die Drei sollen sagen, wie groß ihre Liebe zu ihr ist. Doch dieser Plan geht schief, weil einer der Söhne, Cornald, der Jüngste und eigentlich Elisabeths Lieblingskind, bei dem Spiel nicht mitmachen will. Dies entfacht Elisabeths Jähzorn und kurzerhand wird Cornald enterbt und verstoßen. Was dann folgt, ist eine bittere Lehrstunde für Elisabeth, deren Mentalität darauf beruht, mit Planung, Verhandlungsgeschick, Druck und Aggressivität alles – auch Gefühle – erzwingen zu können.
Lanoye entwirft mit seiner rhythmischen und versreichen Überschreibung von Shakespeares »König Lear« einen Abgesang auf all jene, die den Preis, aber nicht den Wert der Welt kennen. Dabei verschränkt er die Bilder Shakespeares mit denen der Finanzkrise von 2008 und zeigt, was eine Frau opfern muss, um eine Position an der Spitze eines patriarchalen Systems halten zu können.
Drei Themen stehen laut Regisseurin Anne Mulleners im Mittelpunkt: Familie, Macht und Geld. »Für mich ist eine interessante Komponente am Stück, wie Geld eigentlich alles korrumpiert. Alle Beziehungen zwischen den Figuren sind irgendwie geprägt von Geld.« Das mache sie in gewisser Hinsicht unfähig, gesunde Beziehungen zu führen. Daher auch das Motiv am Anfang des Stücks: »Wenn Lear ihre Söhne fragt, als sie ihnen einen Teil der Firma geben will, wie sehr sie sie lieben - das wirkt wie eine Transaktion«, meint Mulleners in unserem Videointerview. Liebe als Transaktion - kann das funktionieren?
mit: Ingrid Cannonier, Sascha Römisch, Matthias Gärtner, Sebastian Kremkow, Judith Nebel, Andrea Frohn, Péter Polgár, Konstantin Marsch
- Regie
- Anne Mulleners
- Ausstattung
- Jan Hendrik Neidert , Lorena Díaz Stephens
- Sounddesign
- Aki Traar
- Dramaturgie
- Isabel Ilfrich
- Choreinstudierung
- Olivia Wendt
- Regieassistenz
- Negar Boghrati
- Kostümassistenz
- Allison Woodburn
- Theatervermittlung
- Bernadette Wildegger
- Inspizienz
- Rowena Haunsperger
- Soufflage
- Constance Chabot-Jahn
»Regisseurin Anne Mulleners hat ›Königin Lear‹ im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt fulminant in Szene gesetzt. Bei der Premiere am Samstagabend wurde vor allem Ingrid Cannonier in der Titelrolle frenetisch gefeiert. […] Wie Ingrid Cannonier diese Wesensveränderung spielt, zwischen Angst und Aggression irrlichtert, den Wahnsinn aus Leere, Licht, Dunkel begreifbar macht — das ist grandios. Klug mixt Regisseurin Mulleners dazu Lanoyes Text mit dem originalen von Shakespeare. Und gerade diese Sprachverwirrung aus Englisch und Deutsch erzählt viel vom Chaos in Lears Kopf. Überhaupt gibt das Ensemble in seiner Geschlossenheit ein starkes Bild ab. […] Langer Beifall.«
»Ring frei […] für schauspielerische Meisterleistungen. Mittendrin und im Zentrum Ingrid Cannonier, die diese große alte Dame, diese in ihrem Kopf allmählich kollabierende Leiterin eines kollabierenden Firmenkonglomerats, in der Tat als große alte Dame schildert: Man erkennt stets die Kraft, die sie einst hatte und entwickelt deshalb den Respekt, den diese Figur verdient. Um diese Handlungsbatterie, die alle positive und negative Energie ausgelöst hat, herum als in Freundlichkeit scheiternden Mitmenschen Kent (Sascha Römisch), Oleg (Péter Polgár) und Cornald (Konstantin Marsch). Ganz im zitternden, aufgeladenen Energiestrom sind bis in jeden Muskel angespannt die beiden konträren Paare und ihre Darsteller*innen Matthias Gärtner, Sebastian Kremkow, Judith Nebel und Andrea Frohn: ein Quartett, das so überzeugend tückisch ist, weil man beständig das Menschliche an seiner Unmenschlichkeit erkennen kann.«
»Es schmälert den hohen Einsatz jedes Einzelnen im Ensemble keineswegs, wenn man Ingrid Cannoniers martialischen Marathon als Glanzleistung des Abends bezeichnet. Ihre schimpfende und verfluchende, zwischen Wahn und Wut hin- und hergerissene Königin Lear ist das Epizentrum der Apokalypse, von ihr geht alles aus, auf sie läuft alles zu. Die Naturkatastrophe draußen vor der Tür ist bloß Hintergrundrauschen für das Drama von Gier und Hass.«
»William Shakespeare erzählt in seinem ›König Lear‹ von der Mechanik von Gier und Rücksichtslosigkeit. Der belgische Autor Tom Lanoye beweist mit seiner ShakespeareÜberschreibung ›Königin Lear‹, dass diese Geschichte auch heute noch funktioniert, nichts von ihrer Mechanik verloren hat. Das Theater Ingolstadt tritt jetzt den Beweis an.«
»Die in Amsterdam geborene Regisseurin Anne Mulleners [....] hat im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt ›König Lear‹ als Kammerspielhaft packende Familiengeschichte mit einer grandiosen Hauptdarstellerin eindrucksvoll in Szene gesetzt. [....] Ein Clou sind die Kostüme von Lorena Diaz Stephens. Entwickelt aus den aktuellen Daunen-Winter-Outfits hat sie elegante Überlebenskleidung geschaffen. [....] Atemberaubend ist Ingrid Cannonier als Königin Lear. Kalt schneidend von ihrem ersten Satz an, unberechenbar in ihren Wutattacken. [....] Grandios wie Ingrid Cannonier in den Wahnsinn abdriftet und immer wieder Halt und Haltung zurückzugewinnen versucht. Ein hysterischer Lachanfall. Ein Zusammenbruch, hündisch auf dem Boden kriechend, ihre Kinder vergeblich um Mitgefühl bettelnd. [....] Der Transfer der Familientragödie der Lears ins Heute ist glänzend gelungen. Und ein Triumph für die Schauspielerin Ingrid Cannonier.«