Quai West
Schauspiel von Bernard-Marie Koltès
Der gescheiterte Banker Maurice Koch will seinem Leben ein Ende bereiten und lässt sich, weil er seinen eigenen Porsche nicht fahren kann, auf der Suche nach einem passenden Ort von seiner Sekretärin zu einer zwielichtigen Lagerhalle an den Westpiers von Manhattan chauffieren. Vor lauter Angst, zu leicht zu sein, steckt er sich zwei schwere Steine in die Taschen und stürzt sich in den Hudson River. Doch ein Unbekannter springt ihm hinterher und zieht ihn wieder heraus. In der Randzone der Zivilisation ist der erfolgsgewöhnte Manager der Fremde unter den Illegalen, Arbeitslosen und Außenseitern des gesellschaftlichen Systems. Kaum ist er da, beginnen dubiose Deals um Autoschlüssel, Hilfsdienste und Solidarität. Alles hat seinen Preis – am teuersten aber bleibt die eigene Utopie vom besseren Leben. Auf dem Hafengelände, wo längst keine Fähre mehr fährt, lebt auf diese Weise immer noch eine kleine Handvoll Menschen, die sich schon längst an das Gefühl gewöhnt haben, keinen festen Grund unter ihren Füßen zu spüren. Da ist Charles, der Türsteher, der es unbedingt zu etwas bringen und Claire, seine Schwester, die möglichst schnell erwachsen werden will. Die Mutter Cécile, eine Indianerin aus Argentinien, die sich als einzige Zivilisierte unter Wilden sieht, ihr Mann Rodolphe, der seit einem verlorenen Krieg eine Kalaschnikow mit sich herumträgt und Fak, der sich in den Kopf gesetzt hat, Claire zu entjungfern. Und schließlich, inmitten all dieser Gestalten, der rätselhafte Abad, ein junger Schwarzer, der kein Wort spricht. Maurice Kochs Auftauchen verändert das Machtgefüge im Niemandsland. Er symbolisiert all die Freiheits – und Glücksverheißungen der anderen Flussseite, von denen die Figuren angezogen werden wie Motten vom Licht. Als Katalysator setzt der Banker eine Handlungskette in Gang, die mit zwei Toten endet und trotzdem nichts verändert. Der Weg zur Freiheit, von dem alle träumen, bleibt in ›Quai West‹ zumindest zu großen Teilen unerschlossen. Bernard-Marie Koltès Stücke leben von der unheimlichen und verstörenden Atmosphäre der Straße, von Momenten der Ungewissheit, in denen die Situation von einem Moment zum anderen umkippen kann, wo zwei Menschen, die sich begegnen, jederzeit zu Tieren werden können. Die Komik, die Koltès seinen Figuren dabei einschreibt, verschärft die Ernsthaftigkeit seiner Weltsicht.mit: Nik Neureiter (Maurice Koch), Victoria Voss (Monique Pons), Sabine Wackernagel (Cécile), Olivia Cilgia Stutz (Claire, ihre Tochter), Toni Schatz (Rodolfe, ihr Mann), Olaf Danner (Charles, ihr Sohn), Enrico Spohn (Fak)
- Regie:
- Thomas Krupa
- Bühne:
- Andreas Jander
- Kostüme:
- Sabina Moncys
- Musikalische Leitung:
- Mark Polscher
- Dramaturgie:
- Lene Grösch
Premiere am
Großes HausDauer: 130 Minuten
Süddeutsche Zeitung
– 08.12.2010
Verzweifelter Banker
Ingolstadt - Bernard-Marie Koltes war Anfang der 1990er Jahre einer der meistgespielten Autoren auf deutschen Bühnen. Mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod ist es ruhig geworden um den früh Vollendeten. Gleichwohl wird er immer bleiben. Koltes ist ein Klassiker. Die Stücke besitzen statt plumper Tagesaktualität archaische Wucht. Die Schönheit ihrer Sprache teilt sich noch in stiller Lektüre mit. "Quai West", das am vergangenen Wochenende in Ingolstadt Premiere hatte, ist dafür ein ideales Beispiel. Regisseur Thomas Krupa hat eine sehenswerte Inszenierung für die große Spielstätte eingerichtet, die von Verständnis für Koltes' Werk zeugt. Auch wenn nicht alles gelungen ist - Mikrofon und Ventilator auf sonst leer gefegter Bühne hätte man sich sparen können - so behält das Drama hier seinen geheimnisvollen Fond. Krupa und sein Bühnenbildner Andreas Jander setzen auf die Ästhetik des Zwielichts. Und inhaltlich wird nicht der Fehler begangen, aus dem Banker Koch, der sich für seinen Freitod die stillgelegten Piers einer großen Hafenstadt ausgesucht hat, einen Zocker unserer Tage zu machen. Koch, den Nik Neureiter nach zaghaftem Beginn noch zu verzweifelter Größe treibt, und seine Begleiterin Monique, die hippeligtussige Victoria Voss, sind hier schlichtweg Eindringlinge. Sie bringen das Sozialgefüge der in Lagerhallen hausenden Gesellschaft zum Zerbersten, indem die Insignien ihrer Welt - Luxusauto, feiner Zwirn - das Sehnsuchtspotential der Außenseiterbande entflammen. Sehr kraftvoll, gleichzeitig zärtlich: Olaf Danner als ihr vermeintlicher Anführer Charles. Bis auf den rätselhaften "Abad", der das gesamte Stück über stumm bleibt, haben alle ihre großen Monologe. Miteinander reden die Menschen bei Koltes kaum mehr. Und wenn, verstehen sie sich nicht. (Florian Welle)
Nürnberger Nachrichten
– 08.12.2010
Mit Sprachgeknatter gegen Existenznot
Am Theater Ingolstadt hatte Bernard-Marie Koltès’ selten gespieltes Schauspiel „Quai West“ Premiere, ein Stück in der Tradition des absurden Theaters, eine Art Sprechoper in einer düsteren, kafkaesken Welt. Ein Mann, der unbedingt sterben will, trifft auf Menschen, die auf jeden Fall überleben wollen. Den wohlhabenden Banker Maurice Koch treibt es nach dem Verlust von sieben Millionen auf der Suche nach dem Freitod in ein schattenhaftes Viertel einer namenlosen Stadt; dorthin, wo eine Hand voll gierige Existenzen in Dunkelheit und Mangel den Reichtum des Fremdlings wittern und nutzen wollen. In Bernard-Marie Koltès’ Schauspiel „Quai West“ knallt die spärliche, sperrige Handlung ohne Vorspiel und Federlesens in eine sinnfreie Welt. Die mutige Ingolstädter Inszenierung durch Regisseur Thomas Krupa leitet kompromisslos in diesen unentrinnbaren Strudel hinein und nutzt die jähe Fallhöhe des Texts vom Gemeinen ins Groteske als düster bebilderte Reise in einen für das Publikum durchaus auch anstrengenden Alptraum. Aber es wurde ja gleich zu Beginn auch gewarnt vor zwei Stunden vergeblicher Suche nach Botschaft. Das Stück des 1989 nur 41-jährig an Aids gestorbenen Franzosen ist ein Konstrukt wundervoller, leuchtend heller Satzkaskaden vor dem Hintergrund dunkler Existenznot. Je artifizieller die Leute sprechen, desto weniger Inhalt steckt freilich hinter den Worten. Die Sprache ist ein schönes Gefäß, aber selbst in der schönsten Tasse wird bitterer Kaffee nicht süßer. Vor dem Hintergrund größtmöglicher Vereinsamung wird Sprache bei Koltès zur Lautmalerei. Und hinter der Membran dieser dröhnenden Worte schaut man Maurice Koch und seiner Chauffeurin, schaut man der alten Cécile und ihrer Familie, schaut man dem düsteren Fak zu beim scheiternden Versuch, aus ihren leeren Existenzen in erfüllte zu entkommen. Krupa leitet mit ständigen Lichtwechseln durch die Szenen auf karg eingerichteter Bühne mit dumpf spiegelnder, schräger Rückwand (Bühne: Andreas Jander). Offenbar eine Lagerhalle im Verfall, in der die Regie immer wieder knackige Bilder findet, so etwa, wenn der kriegsgeschädigte Rodolfe ein Mikrofon an seinen Schädel hält und man zunächst nur das Geknatter eines Hubschraubers hört. Die Schauspieler haben statt Handlung vor allem viele Worte, die wenig sagen. In Ingolstadt basiert die geglückte Inszenierung deshalb auf ausgesprochen gut gelungener Arbeit an diesem Wortreichtum: etwa Olaf Danner als Sohn Charles, der in seinen Texten forschend Ernst sucht und zunehmend Verzweiflung findet; Nik Neureiter als Maurice Koch, der seine Umgebung nicht versteht und der deshalb expressiv-deklamatorisch wirkt; Olivia Cilgia Stutz als Claire und Enrico Spohn als Fak wiederum haben ein sehenswertes girlandenhaftes, nebensatzknatterndes Balz-Duett in dieser wohlklingenden, gut bebilderten Kafka-Sprechoper. (Christian Muggenthaler)
Augsburger Allgemeine
– 06.12.2010
Keine leichte Kost
Ingolstadt Theater mit „Gebrauchsanweisung“ nun auch in Ingolstadt – und zwar bei der Premiere von Bernard-Marie Koltès’ „Quai West“. Der Intendant Peter Rein bzw. der Regisseur Thomas Krupa haben offensichtlich nur begrenztes Vertrauen in das 1985 in Amsterdam uraufgeführte Stück bzw. in dessen Ingolstädter Inszenierung: Eine halbe Stunde vor Beginn kann nämlich, wer will, sich in einer Ecke des Foyers von Dramaturgin Lene Grösch die „Bedienungsanleitung“ für die Aufführung geben lassen, auch künftig. Freilich, solche Nachhilfe kann auch seine Tücken haben: Eigentlich sollte man das Erläuterte anschließend auf der Bühne selbst sehen, spüren, fühlen, nachvollziehen können… In einer dunklen Lagerhalle am Pariser Stadtrand spielend, bevölkert von einem Panoptikum abstruser Figuren, ist Koltès’ depressive, desillusionierende Zustandsbeschreibung „Quai West“ keine leichte Kost: verwirrend, verstörend, irritierend, unangenehm. Regisseur Thomas Krupa, dessen famose Ingolstädter Freilicht-„Carmen“ aus dem Jahr 2009 noch in bester Erinnerung ist, schafft es diesmal nicht, konsequent und überzeugend seine Vorstellungen dem Zuschauer zu vermitteln. Er schwankt in seiner Inszenierung unentschlossen zwischen Realismus, Surrealismus, Komödie, Groteske und Farce. Tadellose Schauspieler-Leistungen. Prächtig dagegen das Ensemble auf der von Andreas Jander minimalistisch gebauten Bühne. Victoria Voss, Olivia Cilgia Stutz, Sabine Wackernagel, Olaf Danner, Nik Neureiter, Toni Schatz und Enrico Spohn liefern ausnahmslos tadellose Leistungen ab. Pausenlose 130 Minuten Spielzeit Nach – pausenlosen (!) – 130 Minuten Spielzeit nur zögerlicher, höflicher Applaus des Premierenpublikums besetzen Großen Haus des Theaters Ingolstadt. Man konnte es trotz der hervorragenden Schauspieler verstehen. (Peter Skodawessely)
Kulturkanal
– 06.12.2010
Aus der Dunkelheit lösen sich die Figuren
„Quai West“ von Bernard-Marie Koltès, dem wohl interessantesten französischen Theaterautor der 1980er Jahre. Zugegeben: Es ist ein schwieriger, und mit über 2 Stunden Spieldauer ohne Pause auch langwieriger Theaterabend.
Rätselhaft und im Dunkel der Bühne von Andreas Jander bleibt vieles. Ein mit schwarzen Metallplatten begrenzter Raum, ein undurchdringliches Dunkel, eine Halle in einer verlassenen Hafengegend vielleicht am Hudson River in Manhattan, aber auch ein metaphorischer Ort of no return. Hierher kommt ein Vermögensberater mit seiner Sekretärin, um sich umzubringen. Bevor ihm dies gelingt - oder er ermordet wird, begegnet er Menschen, mit denen er normalerweise nie im Leben zusammen gekommen wäre. Migranten wie Cécile, der Indianerin aus Südamerika, ihr kriegstraumatisierter Mann, der eine Kalaschnikoff unter dem Hosenbein und eine Gesichtsmaske trägt, ihr Sohn Charles, der dazugehören will zu denen, die etwas gelten in der Gesellschaft, ihre halb erwachsenen Tochter und Fak, der immer wieder versucht, das Mädchen zu überreden, sich von ihm entjungfern zu lassen.
Aus der Dunkelheit lösen sich die Figuren, bruchstückhaft bleiben ihre Biografien, fragmentarisch und zwiespältig erscheint aber auch ihr Verhalten, aus dem reichen Fremden irgendwie Kapital zu schlagen.
Eigentlich wollen alle weg von hier. Doch der Ort ist eine Sackgasse, aus der es offenbar kein Entkommen gibt. Die Fähre legt nicht mehr an, das Luxus-Auto des Bankers wird zum Symbol der Flucht, die aber gleichzeitig von allen sabotiert wird. Der eine klaut den Autoschlüssel, der andere montiert den Verteilerkopf ab, jemand zersticht die Reifen.
Es macht die Qualität dieses Theaterstücks aus, dass Koltès dieser Begegnung von Menschen aus zwei konträren Seiten der Gesellschaft einen gehörigen Schuss Beckettscher Endzeit-Metaphorik mitgegeben hat.
Wie Lichtblitze leuchtet aber auch immer wieder die Aktualität dieses 25 Jahre alten Theaterstücks auf. Da spricht der Banker, dem ein Stiftungsvermögen irgendwie abhanden gekommen ist, von der nur noch fiktiven Existenz des Geldes und er begegnet dort, wo er Selbstmord begehen will, einer Gruppe von Migranten, die im Ghetto einer Parallelgesellschaft gefangen ist.
Andreas Janders düstere Bühne mit einem Wasserschlauch von oben, der unvermittelt in Bewegung gerät, die dumpfen metallischen Sounds von Mark Polscher, und immer wieder das Geräusch von auffliegenden Vögeln verstärken den unheimlichen, mysteriösen Untergrund einer Geschichte, in der Menschen miteinander kommunizieren, indem sie einen Deal, ein Business, Leistung für Gegenleistung anzubahnen versuchen.
Regisseur Thomas Krupa hat noch eine weitere Abstraktionsebene hinzugefügt und damit den Zuschauern das Verständnis völlig unnötig weiter erschwert, indem er die zentrale Figur des Abad, eines stummen Schwarzen, nicht besetzt hat. Die anderen Personen spielen also auch immer noch die Anwesenheit einer Figur mit, die außer ihnen niemand sieht. Deutlich wird dies erst, wenn mit dramatischem Lichtwechsel in die O-Gasse gestarrt und die Kalaschnikoff dorthin getragen wird, woher dann auch Charles unvermittelt erschossen wird.
Darüberhinaus lässt Krupa die Schauspieler mit Fingerschnipsen für Lichtwechsel sorgen und er führt die Theaterebene weiter, indem ein Plastikschaff als Fluss dient, indem der Banker zu ertrinken versucht. Das ist so komisch nun auch wieder nicht.
Hervorragend aber ist es dem Regisseur gelungen, mit dem Ensemble die unterschiedlichen Tonlagen von Koltès Sprache zu erarbeiten. Da steigt Victoria Voss mit einem Boulevardtheatermunteren Virtuosenstück ein, da gibt es ein herrliches Sprachtempo-Duett zwischen Enrico Spohn und Olivia Stutz oder dramatische Arien, wie den spanischen Monolog von Sabine Wackernagel, es gibt Chorisches, Slapstick, Comedy und melancholische Momente.
Und auch Nik Neureiter siedelt seinen Banker im Pendelschlag zwischen Resignation und komischem Selbstmitleid an, während Olav Danner und Toni Schatz für eine eher realistische Spielebene sorgen.
Nicht einmal bei der Premiere war der Zuschauerraum gut gefüllt. Ist ein solches Stück wie „Quai West“ wirklich eine so große Zumutung für das Ingolstädter Publikum?
Isabella Kreim
Bayerische Staatszeitung
– 10.12.2010
Hilflos im Hafen
Gewiss mutig, diese Spielplanentscheidung - und spürbar eine Zumutung für das Premierenpublikum im Großen Haus des Theaters Ingolstadt: Das Schauspiel Quai West des französischen Dramatikers Bemard-Marie Koltes (1948 bis 1989), uraufgeführt 1985 in Amsterdam, gibt zwar an der Oberfläche eine Handlung vor, mäandert aber dahin in langen, verrätselten, oft auch beliebig erscheinenden Dialogen und Monologen. Ein Banker hat veruntreut, will sich - in Begleitung seiner Sekretärin - im Hafen von Manhattan das Leben nehmen; dort trifft er auf dubiose Figuren, Outcasts, Migranten. Lebenswelten prallen aufeinander: Hier der samt Rolex und Jaguar gestrandete Bourgeois, der sich schwer tut mit dem Suizid, noch lange mit gebrochenem Knöchel herumhumpeln muss - dort die von Existenzgier, Sehnsüchten oder Tristesse getriebene Unterschicht. Es geht also auf ziemlich traurige Weise im Allgemeinen um das Thema, was das Leben für einen Sinn habe, und speziell darum, dass der Mensch dem Menschen keine Hilfe ist. Am Ende: zwei Tote und für die Überlebenden keine Spur von Hoffnung. Bleibt das Rätsel um das Schicksal eines stummen jungen Schwarzen, der in der Ingolstädter Aufführung nicht in personam erscheint~, sondern eine "gesprochene" Figur bleibt. Ziemlich vertrackt, die ganze Geschichte. Im Bühnenbild von Andreas Jander, einer grauschwarz eingefärbten Lagerhalle, bemüht sich Regisseur Thomas Krupa, durch kunstvolle Lichteffekte dem Stück aufzuhelfen. Das Konzept erzielt ästhetische Qualitäten, vermag aber doch nicht das verkopft- quälende Hinziehen der Textlastigkeit zu mindern. Auch bescheidene Regiegags helfen nicht weiter, etwa wenn die Akteure Anweisungen an die Beleuchtung schnipsen oder sich beim Abgang auf Plätzen in der ersten Reihe des Parketts niederlassen, Die schauspielerischen Leistungen von Sabine Wackernagel, Victoria Voss, Nik Neureiter, Olaf Danner, Enrico Spohn, Olivia Cilgia Stutz, Toni Schatz sind einwandfrei. Dennoch nur matter Premierenbeifall. (Gudrun Rihl)