Blackbird
Schauspiel von David Harrower
»Mir geht es nicht darum, zu einem Schluss zu kommen, sondern darum, Fragen zu stellen; Fragen über persönliche Freiheit und Verantwortung, und Fragen darüber, was man im Leben hinter sich lässt und was man mit sich herumträgt und wie sehr man der Vergangenheit die Schuld an den Problemen der Gegenwart gibt.« David Harrower Als Una zwölf und Ray 40 waren, hatten sie ein »Verhältnis « und wurden entdeckt, er kam für sechs Jahre ins Gefängnis, sie in Therapie. 15 Jahre später sieht sie ein Foto von ihm in der Zeitung und besucht ihn an seinem schlecht bezahlten Arbeitsplatz, einer schmutzigen Kantine, um ihn zu beschimpfen und zur Rede zu stellen. War es Liebe, war es Missbrauch, war es beides und wo verläuft die Grenze? Welche Bilder und Interpretationen haben sich über die Vergangenheit gelegt? ›Blackbird‹ ist die Liebesgeschichte zweier Menschen, die eine gemeinsame Erfahrung hinter sich gebracht haben, die ihr Leben verändert hat. Mit einem neuen Namen, einer neuen Arbeit fern seiner damaligen Stadt und mit einer neuen Frau hat er sich eingerichtet. Einige Jahre lebt er schon mit ihr zusammen, sie ist sogar etwas älter als er. Erzählt er Una. Die will eigentlich nur Gewissheit über das, was damals geschehen ist. Als Anklägerin erscheint sie, doch wandelt sich das Bild bald. Sie, damals ein frühreifes Mädchen, hat ihm heimlich nachgestellt, ihm kleine Briefchen unter den Scheibenwischer geklemmt, war unheimlich in ihn verschossen. Sie nahm ihn sich, weil sie es mochte, von ihm umhergefahren zu werden, weil sie die Blicke der anderen sehen wollte, die neidisch waren. Sie lauerte ihm auf, wartete vor seiner Haustür. Er verliebt sich in sie, sie schlafen miteinander und sie genießt es, ihn glücklich zu machen. Beide reisen zusammen ans Meer, wo er eigentlich nur Zigaretten holen will, jedoch so lange nicht zurückkehrt, bis Una sich auf die Suche nach ihm macht, ihn nicht findet und schließlich von einem Paar aufgelesen wird, was erst ihre Eltern und dann die Polizei ruft. Ray wird festgenommen und Una verteidigt ihn. Trotzdem wird er verurteilt. Er habe sie geliebt, habe sonst nie eine andere Minderjährige auch nur aus der Ferne angesehen. Er sei kein Pädophiler. Una glaubt ihm und sie verzeiht ihm. Nach einem Kuss will sie mit ihm schlafen, doch er blockt ab. Er hört seine Frau nach ihm rufen, die ihn wohl von der Firma abholen will … David Harrower, geboren 1966 in Edinburgh, ist Dramatiker, Drehbuchautor und Übersetzer und zählt zu den wichtigsten britischen Gegenwartsautoren, seit er mit seinen ersten Stücken große Erfolge auf internationalen Bühnen feierte. Harrower schrieb ›Blackbird‹ 2005 für das Edinburgh Festival, wo es in der Regie von Peter Stein uraufgeführt würde. Harrower ist ein Meister im unverkopften und doch nie oberflächlichen Zergliedern extremer, widersprüchlicher Gefühlslagen (sein ›Messer in Hennen‹, war ein großer Erfolg im Studio unter der Regie von Schirin Khodadadian). Harrower gelingt auch mit ›Blackbird‹ ein perfektes well made play, eine anrührende, intelligente Paraphrase auf den so heiklen Lolita-Komplex, die sich theatralischer Richtersprüche weise enthält.mit: Vera Weisbrod (Una), Rolf Germeroth (Raymond)
- Regie:
- Alice Asper
- Ausstattung:
- Nora Brügel
Premiere am
Werkstatt/Junges TheaterDauer: 100 Minuten
DONAUKURIER
– 30.11.2009
SCHATTEN DER VERGANGENHEIT
Ingolstadt (DK) Ein stummes Höllengelächter scheint den Raum zu erfüllen. Überall breit grinsende Zähne zwischen roten Lippen – aufgeklebt auf billige graue Pappschachteln, die schlampig an die Wände gestapelt sind. "For a nice smile" steht darunter.
Ein Dentalprodukt wird hier vermarktet. Vermutlich eher verramscht, überträgt man den Eindruck dieses Aufenthaltsraumes voller Müll und unappetitlicher Essensreste auf die ganze Firma. Kein einladender Ort für private Gespräche. Aber genau hierher führt Ray Una. Und die Art, wie er die Tür schließt und wieder öffnet, angespannt auf Geräusche von außen hört, nervös Distanz wahrt, offenbart: Una soll hier nicht sein. Nicht in diesem Raum. Nicht in seinem Leben. "Ein Schock", fragt sie. "Ja. Was sonst", antwortet er.
Lange haben sie sich nicht gesehen. Dabei waren sie sich einst nah. Von Liebe war die Rede. Aber damals war Una zwölf Jahre alt. Und Ray 40. Und er wusste, was er tat, als er sie missbrauchte. Das Verhältnis wurde entdeckt. Er zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Sie dazu, am gleichen Ort weiterleben zu müssen, durch eine Psychotherapiemühle gedreht zu werden. Nach dem Gefängnis hat er sich in eine neue Identität verkrochen, lebt mit neuem Namen, neuem Job in einer fremden Stadt. Sie steckt immer noch im gleichen Leben fest. Zerrissen von Schuldgefühlen, Scham, Zorn. "Du hast mich in ein Gespenst verwandelt." Jetzt hat sie ihn aufgespürt – und stellt ihn zur Rede.
"Blackbird" hat David Harrower sein präzises, berührendes Drama genannt – eine Art Paraphrase auf den Lolita-Komplex –, das alle nur denkbaren Facetten des Themas beleuchtet, dabei nie den Missbrauch in Frage stellt, aber Täter- und Opfersicht, unterschiedliche Wahrnehmungs- und Erinnerungsperspektiven, die Verschiebung der Machtverhältnisse, Lügen und Selbstbetrug peu à peu in einem spannenden Dialog-Duell enthüllt. Das Stück ist klug gebaut, enthält viele Fallen und Wendungen und ein unfassbares Finale. Alice Asper hat es nun in der Werkstatt des Theaters Ingolstadt mit großer Sensibilität und einem exzellenten Schauspielerduo an einem klaustrophobischen Unort (Ausstattung: Nora Brügel) in Szene gesetzt. Als strapaziösen Seelenstrip und Psychokrimi.
Denn über die 100 Minuten Spielzeit, während Una und Ray ihre Anklage- und Rechtfertigungsreden hinausbrüllen, -stottern, -flüstern, während sie ihre Versionen des damals Erlebten schildern, ganz unterschiedliche Bilder von der Grillparty, den heimlichen Treffen im Park, der Nacht im Hotel evozieren, sich selbst bedauern, den anderen demütigen oder vielleicht auch Vergebung suchen, verändert sich das Verhältnis der beiden Figuren zueinander. Scheint Una zunächst stark und abgebrüht und Ray fast ohnmächtig vor Furcht vor dem Racheengel, wird sie bald wieder zum Kind im roten Kleidchen und mit Kapuzenjacke, das er so aggressiv wie autoritär ("Ist das klar!") einzuschüchtern versucht. Sein und Schein verwischen. Es gibt Annäherung und versonnenes Lächeln über alte Zeiten. Wutausbrüche und Exis- tenzängste. Hilflosigkeit, Schuld, Leere, Kapitulation, Tabu, Misstrauen gegen den eigenen Körper. Kaputte Seelen.
Sehr genau hat Alice Asper diese Perspektivwechsel, Umschwünge, kippeligen Szenen, die Unschärfen subjektiven Erinnerns inszeniert. Und Vera Weisbrod und Rolf Germeroth beherrschen dieses Spiel der emotionalen Aggregatzustände, das Ringen um Wörter, Empfindungen, Glaubwürdigkeit eindrucksvoll. Die Inszenierung enthält sich – wie auch das Stück – einer moralischen Wertung und entlässt den Zuschauer trotz vieler Fragen mit Erkenntnis und Entsetzen zugleich. Eine eindringliche wie komplizierte theatrale Suche nach Wahrheit, die mit langem Applaus bedacht wird. (Anja Witzke)
KULTURKANAL INGOLSTADT
– 30.11.2009
BLACKBIRD
War es Missbrauch, obwohl das Mädchen zugibt, für den älteren Mann geschwärmt zu haben und stolz war auf diese Beziehung?
War es Liebe, obwohl sie erst 12 war und der 40jährige Mann wissen musste, dass die kindliche Verliebtheit nicht gleichzusetzen ist mit seinen Sehnsüchten.
Der britische Autor David Harrower erzählt in seinem Zweipersonenstück „Blackbird“ auf äußerst differenzierte Weise von der Begegnung von Täter und Opfer nach 15 Jahren.
Und stellt darüber hinausgehende Fragen. Etwa darüber, wie unterschiedlich zwei Menschen dieselbe Geschichte der Vergangenheit empfinden und in die Gegenwart mitnehmen.
Regisseurin Alice Asper ist tief in die Nuancen des subtilen Stücks eingedrungen, das keine schnellen Urteile über Schuld und Unverständnis zulässt, und sie hat die beiden Darsteller Rolf Germeroth und Vera Weisbrod eindrucksvoll durch diffuse, ambivalente Gefühlslagen geführt. Hier stehen wirklich Menschen mit all ihren Widersprüchen auf der Bühne, die Stück um Stück herausgeschält werden. Und es ist atemberaubend spannend, ihnen in die verdrängten oder überspielten Winkel ihrer Emotionen zu folgen, den jeweils Schweigenden zu beobachten ebenso wie den Redenden.
Im mit Kisten und Essensresten zugemüllten Aufenthaltsraum einer Firma für Dentalbedarf
hat Una, inzwischen 27, den Mann aufgetrieben, der nach 6 Jahren Gefängnis mit neuem Namen in einer anderen Stadt, mit neuer Familie nichts mehr wissen will von damals.
Großartig, die erste Verlegenheit dieser Begegnung. Das Schweigen. Gleichzeitig mit banalen Sätzen die Peinlichkeit überbrücken und unvermittelt abbrechen. Die Blicke: Neugier, im anderen den ehemals Vertrauten zu entdecken und dann wieder ängstlich, lauernd: Hilflosigkeit, Wut, Abwehr, sich auf den anderen noch einmal einzulassen, um der wahren Geschichte vor 15 Jahren auf die Spur zu kommen. Hervorragend inszeniert, wie in diesem Psychodrama durch wohldosierte Ausbrüche die unterschwellige Spannung auch immer wieder explodiert. Ausstatterin Nora Brügel hat mit kleinen Details wie dem roten Kussmund auf den Kartons, den ekligen Essensreste auf Ketchup-klebrigen Papptellern, dem Verpackungsmaterial und irgendeiner weißlichen Flüssigkeit in den Kartons, mit denen sich die beiden bekleckern, mit dazu beigetragen, dass sogar kurze Momente der Tragikomik entstehen.
Ray, oder wie er sich jetzt nennt Peter, fühlt sich nicht als Pädophiler.
Beide mokieren sich einhellig über Therapeuten-Weisheiten. Es gibt Augenblicke nostalgischer Erinnerung an heimliche Treffen in beiderseitigem Einverständnis und verliebte Spaziergänge im Park. Und schließlich wollte das ungleiche Paar sogar zusammen abhauen.
In der Stadt am Meer, von der aus sie die Fähre nehmen wollen, kommt es zum ersten sexuellen Kontakt – in derselben Nacht verlieren sie sich durch unglückliche Zufälle. Sie denkt, er habe sie verlassen, ist sauer, nicht weil er sie missbraucht hat, sonder weil er sie alleingelassen hat. Gegen ihren Willen kamen die Missbrauchsanklage und das Gerichtsverfahren in Gang.
Jeder der beiden erzählt seine Version. Trauern beide um ein durch unglückliche Umstände verpasstes gemeinsames Abenteuer, oder gar ein gemeinsames Leben?
Rolf Germeroth ist kein fieser Typ, kein Lüstling, kein Macho. Er ist weder primitiv noch herrschsüchtig. Er ist verstört, verunsichert, ängstlich, aufbegehrend nur dann, wenn er die Entdeckung seiner alten Identität in der Firma fürchtet. Liebevoll, verständnisvoll könnte er gewesen sein zu dem 12jährigen Mädchen. Verzweifelt verliebt und zu schwach, um sich nicht geschmeichelt zu fühlen.
Germeroth führt uns den schmalen Grat entlang zwischen Verständnis für den Täter und Erschrecken über die Tat.
Vera Weisbrod wirkt zunächst als selbstbewusste junge Frau, stark genug, um sich und den Täter mit dem Trauma ihres Lebens zu konfrontieren. Scheinbar kalkuliert, abwartend, auch provokativ. Aber da ist auch ihr Selbsthass auf ihre Stigmatisierung als Opfer, das nicht ausbrechen konnte aus dem engen Umfeld von Familie und Wohnort, ihre kalte Wut darauf, wie scheinbar perfekt es ihm dagegen gelungen ist, die Vergangenheit zu verdrängen.
Doch wir sehen auch: Sie hat klaustrophobische Ängste, sobald der Raum zu eng wird, dreht durch, wenn sie von diesem Mann angefasst wird.
Und die Selbstsicherheit schwindet umso mehr, als sie ihre kindliche Verliebtheit und den Wunsch, ihn zu schützen und zu behalten, eingesteht.
Was wissen Menschen wirklich voneinander? Nicht nur in der Vergangenheit, auch in der Gegenwart bleibt Rays oder Peters Identität diffus. Ist er der Hausmeister der Firma oder tatsächlich ein wichtiger Mitarbeiter?
Die beiden nähern sich wieder an. Verzeihen, die alte Vertrautheit, sogar das alte Begehren scheinen möglich.
Da nimmt das Stück eine überraschende Wendung, die erneut alles in Frage stellt.
Es gibt nur die Wahrheit, wie komplex menschliche Beziehungen sind. Nicht nur bei diesem heiklen Thema. Alice Aspers Inszenierung und die beiden hervorragenden Darsteller gewähren einen tiefen Einblick. „Blackbird“: Ein ernsthafter und fesselnder Theaterabend.
Isabella Kreim www.kulturkanal-ingolstadt.de