Pornographie
Schauspiel von Simon Stephens
›Pornographie‹ thematisiert den Wortsinn in einer erweiterten Bedeutung. In großen Monologen und Dialogen zeigt das Stück Momentaufnahmen aus dem Alltagsleben von acht ganz unterschiedlichen Großstadtmenschen. London im Juli 2005: Innerhalb weniger Tage findet hier das Live-8-Konzert der Pop-Stars mit Hunderttausenden von Zuschauern statt, London wird zur Olympiade-Stadt 2012 gewählt, und einen Tag danach reißen vier Bombenattentäter in U-Bahn und Bus 52 Menschen mit sich in den Tod. Stephens entwirft ein brüchiges Mosaik rund um die Katastrophe. Und er lässt die Monologe der Menschen, die sich nicht treffen, wie einen Countdown ablaufen. Das Verbindende der Geschichten sind die Regelverstöße, die Tabubrüche, die alle begehen. In einer Mischung aus Isolation und Exhibitionismus missbrauchen sie Andere als Objekte. Darin liegt die Obszönität. Acht Menschen, acht Schicksale, acht verschiedene dunkle Sehnsüchte. An einem heißen Sommermorgen in London verlässt ein Familienvater das Haus, steigt in den Zug und zündet in der Innenstadt die Bombe in seinem Rucksack. Oberflächlich verbinden die Anschläge auf den Londoner Nahverkehr die Figuren in Stephens Stück, doch unterschwellig bestehen zwischen ihnen noch ganz andere Gemeinsamkeiten: Eine junge Frau möchte mit ihrem Bruder schlafen und ärgert sich, dass man in der heutigen Gesellschaft um »die schönsten Dinge des Lebens« gebracht wird – zum Beispiel um den »Genuss«, sein eigenes Kind zu misshandeln oder einen geliebten Menschen zu schlagen. Ein alternder Professor nötigt seine ehemalige Studentin. Ein Schüler zerdrückt eine brennende Zigarette auf dem Gesicht seiner lesbischen Lehrerin, weil sie ihn zurückgewiesen hat. »Dieses Stück entstand aus tiefem Zweifel an unserer Kultur «, so Stephens in einem Gespräch 2007. »Wir sind flächendeckend videoüberwacht, werden ununterbrochen beobachtet, und beobachten uns selbst. Wir sind fasziniert von unserem eigenen Auftritt. Das ist eine Kultur der extremen Isolation.« Pornografie bedeutet, zumindest in Stephens Stück, nicht Sex, sondern vielmehr die Lust am Schmerz, am Verletzen. Stephen, 1971 in South Manchester geboren, blickt in die seelischen Abgründe seiner Figuren. In einer verunsicherten Gesellschaft, die die Menschen einerseits immer enger miteinander verbindet und sie andererseits immer mehr überfordert und im Stich lässt, suchen sie nach Bedeutung. Stephens Londoner wollen etwas spüren, sich selbst spüren vor allen Dingen – und was spürt man stärker und klarer als Schmerz? ›Pornographie‹ ist »aufrüttelndes, schonungsloses Gegenwartstheater – absolut sehenswert!« titelte THE GUARDIAN begeistert und die deutsche Erstaufführung in Hannover wurde zum Theatertreffen eingeladen.mit: Victoria Voss (Frau), Ole Micha Spörkel (Schüler), Peter Reisser (Bruder), Vera Weisbrod (Schwester), Richard Putzinger (Attentäter), Ralf Lichtenberg (Professor), Julia Maronde (Ehemalige Studentin), Sabine Wackernagel (Alte Dame)
- Regie:
- Sandrine Hutinet
- Bühne:
- Matthias Schaller
- Kostüme:
- Christine Haller
Premiere am
Großes HausDauer: 125 Minuten
AUGSBURGER ALLGEMEINE
– 22.02.2010
GEWALT UND JUBEL IN LONDON
Ingolstadt. Der schon fast marktschreierische
Titel „Pornographie“
macht es dem Stück nicht leicht. Bei
der Ingolstädter Premiere dieses
verstörenden Episoden-Dramas von
Simon Stephens blieben auffällig
viele Plätze des Großen Hauses unbesetzt
– offenbar fühlten sich einige
Abonnenten allein durch das Reizwort
provoziert und tauschten ihre
Karten um. Die Zuschauer aber, die
gekommen waren, hielten auch der
Nacktszene stand und spendeten am
Ende zu Recht langen Beifall für ein
Ensemble, das den Stoff mit schnörkelloser
Intensität umsetzte.
Um Pornographie geht es dem
britischen Erfolgsautor im übertragenen
Sinn. Der Mensch als Ware,
als Objekt, als Spielball der Machtgelüste
anderer – das gilt für die
Porno-Industrie und die acht Figuren
im Drama gleichermaßen: Die
Managerin (Victoria Voss) verrät
ein Firmengeheimnis; der Schüler
(Ole Micha Spörkel) misshandelt
seine Lehrerin, weil sie seine Liebe
nicht erwidert; Bruder und Schwester
(Peter Reisser und Vera Weisbrod)
begehen Inzest im Vollsuff;
ein Professor (Ralf Lichtenberg)
missbraucht seine ehemaligen Studentin
(Julia Maronde) und verschafft
ihr dafür einen Job; eine vereinsamte
alte Frau (Sabine Wackernagel)
klingelt bei wildfremden
Menschen an der Tür. Belästigung,
Übergriffe, Gewalt, Terror sind
längst Alltag in den Metropolen.
Das Stück spielt am Tag der Londoner
U-Bahn-Anschläge im Juli 2005.
Matthias Schaller hat Regisseurin
Sandrine Hutinet einen bühnenfüllenden
weißen Raum gebaut. Lüftungsschächte
deuten den U-Bahn-
Tunnel an, in dem seinerzeit die
Bomben vier gebürtiger Briten pakistanischer
Herkunft 52 Menschen
in den Tod rissen. Die Inszenierung
konzentriert sich auf den Text und
lebt vor allem von der hervorragenden
Gesamtleistung des Ensembles.
Hutinet kennt keine Gnade und
erzählt die Episoden in Neonlicht.
Das achtköpfige Ensemble bleibt als
Chor auf der Bühne, ist Voyeur,
Angstprojektion und Background-
Chor. Vor dem Hintergrund der
kollektiven Euphorie angesichts des
weltgrößten Benefiz-Rockkonzerts
„Live 8“ und dem Olympiazuschlag
für 2012 am selben Tag sitzt der
Schock der finalen Explosionen
umso tiefer.
(Volker Linder)
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
– 23.02.2010
Pornographie ohne Saukram
"Pornographie!' ist kein Saukram, sondern ein bitteres, vorzüglich inszeniertes Stück über den alltäglichen Schrecken unserer Gesellschaft - obszön ist hier nur, was Menschen einander antun.
Von Roman Deininger