Shockheaded Peter
Junk-Opera von Julian Crouch/Phelim McDermott, nach "Der Struwwelpeter" von Dr. Heinrich Hoffmann
Musik von Martin Jacques (»The Tiger Lillies«)
Das Bilderbuch "Der Struwwelpeter" von Dr. Heinrich Hoffmann entstand 1844 und löste von Anfang an eine erstaunliche Resonanz aus, die sich nicht nur auf Deutschland beschränkte. Zahlreiche unterschiedlichste Varianten und Parodien zu dem Werk, bezeugen ebenfalls seine große Bekanntheit. Auf vielfältige Weise wurde es analysiert und gedeutet, u. a. als Glanzstück sogenannter "schwarzer Pädagogik". Auch heute noch ist "Der Struwwelpeter" ein fest stehender Begriff. Da ist der "bitterböse Friederich", der Tiere quält und entsprechend bestraft wird: "Da biss der Hund ihn in das Bein, recht tief bis in das Blut hinein"; Paulinchen verbrennt, weil sie mit Streichhölzern spielt; der Fliegende Robert wird mit seinem Regenschirm vom Wind auf Nimmerwiedersehen fortgetragen, weil er bei Sturm trotz Verbot aus dem Haus geht; dem Konrad werden vom Schneider die Daumen abgeschnitten, weil er heimlich daran lutscht. In der Geschichte vom Hasen wird der Spieß umgedreht, der Jäger wird vom Hasen mit seiner eigenen Flinte aufs Korn genommen. Die Geschichten vom Zappelphilipp, Suppenkaspar oder Hans-Guck-in-die-Luft sind ebenfalls dabei. Ca. 150 Jahre nach dem Erscheinen dieser Geschichten kamen zwei britische Theaterleute, Phelim McDermott und Julian Crouch, gemeinsam mit der Londoner Kultband „The Tiger Lillies“ auf eine verrückte Idee. Die Hoffmann'schen Verse wurden mit schwarzem Humor und noch schwärzerer Pädagogik zugespitzt. Dazu kam eine wilde musikalische Mischung aus einer Art Tom-Waits-Blues und trunkener Zirkusmusik. Das Ergebnis ist die Junk-Opera „Shockheaded Peter“. Seit seiner Uraufführung 1998 in London befindet sich das Musical „Shockheaded Peter" auf einem Siegeszug über die deutschen Bühnen, der bis heute anhält. „Shockheaded Peter“ ist Anwalt und Rebell aller Kinder und Jugendlichen, die nicht funktionieren wollen. Er verwandelt das Lehrbuch der Grausamkeit in eine Fibel der Anarchie.mit: Ulrich Kielhorn, Richard Putzinger, Peter Reisser, Eva Rodekirchen, Renate Knollmann, Andrea Köhler
- Regie:
- Dirk Engler
- Bühne:
- Peter Dachsel
- Kostüme:
- Peter Dachsel
- Musikalische Leitung, Arrangements, Einstudierung:
- Andreas Dziuk
- Musikalische Leitung:
- Gary Todd, Margit Wöhrle
Premiere am
Kleines HausDauer: 75 Minuten
Augsburger Allgemeine
– 15.04.2008
Entratenes Söhnchen
Nein, so haben sie sich ihr ersehntes Söhnchen nicht vorgestellt! Von wem hat es denn die schrecklichen Haare und die ungepflegten Fingernägel? Darob hadernd, beginnt für die Eltern (Andrea Köhler, Ulrich Kielhorn) eine Reise in ihr eigenes Ich, und sie begeben sich auf den Weg von "Shockheaded Peter". Die Junk-Opera von Phelim McDermott und Julian Crouch hatte im Kleinen Ingolstädter Haus Premiere. Es ist eine grotesk-makabre und schwarzhumorige Adaption des "Struwwelpeter" - mit der Musik von Martin Jacques von der Londoner Band "The Tiger Lillies".
Richard Putzinger ist ein grausamer Dompteur. Peter Reisser entsteigt einer sargähnlichen Kiste und führt mit Moritaten durch das Buch. Eva Rodenkirchen verkörpert "Das Kind" mit großer Wandlungsfähigkeit und ansteckendem Humor. In seiner ersten Inszenierung in Ingolstadt schaffte es Dirk Engler, diesen perfiden Spaß mit der Pädagogik in der Ausstattung von Peter Dachsel und unter der musikalischen Leistung von Andreas Dziuk hervorragend umzusetzen.
Bayerische Staatszeitung
– 18.04.2008
Grausamkeiten in Kontrastprogrammen
"Verbrennungen" von Wajdi Mouawad und Julian Crouchs Junk-Oper "Shockheaded Peter" in Ingolstadt
Das Kontrastprogramm dazu läuft zeitgleich an Ingolstadts Kleinem Haus mit der Struwwelpeter-Paraphrase "Shockheaded Peter" von Julian Crouch. Die Inszenierung von Dirk Engler hat das Zeug zum Renner. Die Fäden des Stücks zieht ein Theaterdirektor, der den Teufel der Schwarzen Pädagogik im Leib hat und mit diabolischen Furor all die Brutalitäten anstiftet, die dem Suppenkaspar, dem zündelnden Paulinchen und dem Zapelphilipp zum Verhängnis werden. Engler legt mit rasantem Tempo einen grotesk überzeichneten, bösartig präzisen Bilderbogen hin. Phantasievoll und sehr sorgfältig entwickelt er eine Fülle witziger Überaschungseffekte. Herrlich zum Beispiel ist "Die Sängerin" mit einem Mann besetzt, der in schrillem Falsett und wie eine Puppe mit Schlafaugen geschminkt, die grausamen Geschichten um die verlorenen Kinderseelen verbindet. Ebenso amüsant überzeichnet sind die naiv biederen Eltern und "Das Kind", das das vielfache Ungemach der Protagonisten aus Heinrich Hoffmanns Bestseller zu erleiden hat. Alle zusammen in stimmlicher, sprachlicher und artistischer Hochform.
Der musikalische Leiter Andreas Dziuk und seine beiden Mitstreiter im Halloween-Party-Look schaffen es, als Ingolstädter Alter Ego der Tiger Lillies mit den Songs dieser verrückten Junk-Opera das Spiel so zu ergänzen, dass es nur so sprüht vor Witz und Schnoddrigkeit. Grausam böse und sehr schön.
Gudrun Rihl
KULTURKANAL
– 14.04.2008
„Shockheaded Peter“ – die britische Version des Struwwelpeter mit der hinreißenden Musik der Tiger Lillies
„Das menschliche Bewusstsein ist voller Ungeheuer“ raunt der bucklige Theaterdirektor in Frack und Zylinder mit grotesk gemalten Stummfilmaugen und warnt uns mit Angst einflößendem Pathos vor den Abgründen seines Gruselkabinetts. Dann führt er sie uns mit sardonischer Lust an den Grausamkeiten vor, diese Ungeheuer, die sich der Psychiater Dr. Hoffmann in seinen gereimten Bildgeschichten als Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn ausgedacht hat – mit samt der schrecklichen Bestrafungen, die die unartigen Kinder ereilt.
Die beiden englischen Regisseure Phelim Mc Dermott und Julian Crouch haben aus dieser Abschreckungspädagogik des 19. Jahrhunderts eine grotesk-makabre Rock-Revue gemacht, mit der hinreißenden Musik der Londoner Band The Tiger Lillies.
Struwwelpeter ist in den Augen seiner Eltern eine Missgeburt. Er kommt bereits mit langen Fingernägeln und Kraushaar zur Welt. Also knallen sie ihn in das Bettfach der Couch. Doch der Schlaf der Vernunft gebiert weitere Ungeheuer. Zum Schluss wachsen diesen Spießereltern im trauten Heim selbst lange Krallen und Struwwelhaare. Wird das Kinderbuch mit solchen sozialkritischen Seitenhieben und mit Sinnsprüchen Nietzsches angereichert zum Erwachsenenschreck? Doch wohl eher nicht. Wohl aber in dieser Produktion zum amüsanten, lustvollen Spiel mit den Theatermitteln des Gruselkabinetts und der Stummfilm-Groteske.
In den überzeichnenden Mitteln des Jahrmarkttheaters hat Gastregisseur Dirk Engler ein adäquates Mittel gefunden, um die blutrünstigen Schrecken dieser schauerlichen Strafen ebenso wie die dilettantische Spielwut der Akteure zur allgemeinen Belustigung auf die Spitze zu treiben. Denn Engler zeigt uns auch eine Parabel über die Schrecken der Theaterarbeit. Nach und nach laufen dem Theaterdirektor seine Darsteller aus dem Ruder, vergessen Auftritte, kommentieren dessen autoritäre Dompteursattitüde, meutern gar gegen ihren Regisseur. Doch der nächste Regie- und Intendanten -Zampano steht schon bereit.
Mit herrlich naiven Theatermitteln und damit auch den plakativen Stil von Friedrich Hoffmanns Illustrationen zitierend, werden Feuer und Wasser und all die Schreckensbilder imaginiert. Aus schwarzen Kulissengassen rollt die Mutter quer über die Bühne, Paulinchen verbrennt in einer Miniturbühne, bei der ein bemalter Feuervorhang hochgekurbelt wird, wobei das Verstreuen der Asche über den Schuhen zur komischen Bühnenpanne wird. Ausstatter Peter Dachsel hat die fröhlich fantasievollen Regieeinfälle zwischen altertümlicher Bühnenillusion und Bühnenpannen überspielenden Improvisation stilgetreu
und amüsant umgesetzt. Der böse Friederich schlägt mit der vom Theaterdirektor übernommenen Peitsche auf einen Wischmopp-Hund, der hysterisch aus der Kulisse wackelt und der schließlich – oh Bühnenwunder – von keines Menschenhand berührt – einem ebenso magisch herrenlosen Handschuh quer über die Bühne nachwackelt. Absurde, surreale und poetische Bilder erfindet der Regisseur, um dieser naiven Bühnenmagie zu frönen. Die bösen Buben als Schattentheater, die Sängerin steht wie in einem Wachsfigurenkabinett in einer Kiste. Und umso komischer wird es dann, wenn die illusionistischen Effekte dieser Schauspielertruppe immer öfter misslingen, der Theaterdirektor auf dem blauen Tuch steht, das als Wasser weggezogen werden soll, die Fische so hoch hängen, dass sie die Darstellerin nicht mehr wegschieben kann, sich Umbauten verzögern und der Vater plötzlich fragt: Wie geht’s jetzt weiter? Und alle Darsteller spielen mit herzhafter Lust, aber auch disziplinierter Exaktheit diesen Theaterstil der Übertreibungen, in dem nicht gegangen, sondern mit hochgezogenen Knien getrippelt wird, große Gesten eingefroren und starr exaltierte Mimik perfekt und detailgenau gesetzt sind. Körperlich perfekt und mit großer Emphase zeigt dies Eva Rodekirchen in den verschiedenen Rollen des unartigen Kindes. Ihre outrierten Pantomimen als Zappelphilipp oder zündelnde Pauline, ihre groteske Mimik als Suppenkaspar und schiesswütiger Hase sind das reinste Vergnügen. Aber auch ihr zaghaftes Einspringen, um den romantischen Song vom Fliegenden Robert zu übernehmen, ist zauberhaft. Peter Reisser ist eine herrlich zickige Sirene in weißem Kleidchen und das Sensibelchen der Truppe. Mit unbewegtem Gesicht und ruhigem Falsett singt er den Weihnachtssong – noch in der Kiste. Wie ein aufgescheuchtes Huhn trippelt er über die Bühne, eine zickige Diva, die sich vor dem Auftritt drückt und dann pikiert ist, wenn jemand anders den Part übernimmt. Der dämonische Menschendompteur dieses Gruselkabinetts, Richard Putzinger, bildet natürlich das charismatische Zentrum und die treibende Kraft des Geschehens: Stark! Köstlich auch das Spießer-Elternpaar. Ulrich Kielhorns tumber Gesichtsausdruck und seine trockenen Aparts als missmutiger Schauspieler! Und die zerbrechliche Mutter von Andrea Köhler ist die Sentimentale, die beflissen harmoniebedürftige der Truppe, die sich als eindrucksvolle Koloratursopranistin entpuppt.
Einziger Wehrmutstropfen: Das Trio um den musikalischen Leiter des Hauses, Andreas Dziuk, spielt die hinreißenden Songs etwas arg brav notengetreu als allerdings vielfach ins Spiel integrierte Begleitmusik. Da hätte man sich mehr musikalische Raffinesse gewünscht. Nicht einmal die bösen Buben und der schießwütige Hase rocken so richtig.
„Shockheaded Peter“ ist dennoch ein Vergnügen über den Kitzel am Makabren. Die Inszenierung verzichtet völlig darauf, die blutrünstigen Details als Erwachsenenschocker auszuschlachten. Und entschädigt durch das Vergnügen an der präzisen Parodie volkstümlicher Theatermittel von vorgestern.
Isabella Kreim