Der Kissenmann
Stück von Martin McDonagh
Das Stück ist ein Thriller, ein Kammerspiel der Obsessionen, makaber witzig und auch grausam, intelligent und entsetzlich. Es erzählt von der Schönheit grausamer Fiktionen und der Realität. Der in England lebende 33jährige Autor hat bisher vor allem die Schrulligkeit seiner Landsleute beschrieben und wendet sich nun den Fra-gen zu: Verleitet Gewaltdarstellung in den Medien zur Nachahmung? Wieweit darf Fiktion gehen? Der Schriftsteller Katurian gerät in die Mühlen der Polizei eines totalitären Staates irgendwo auf dieser Welt. Er hat über 400 Geschichten geschrieben, also wird eine davon aus politischen Gründen den Zorn der Mächtigen erregt haben. Doch die Poli-zeibeamten interessieren sich nicht für seine politischen Überzeugungen. Sie wollen wissen, warum die Morde an zwei kleinen Kindern so detailgenau Ähnlichkeit mit je-nen Kindesmisshandlungen aufweisen, die Katurian in seinen Geschichten „Das Apfelmännlein“ und „Die Stadt am Fluss“ beschrieben hat. Der Autor leugnet jede Täterschaft, will für seine Phantasien nicht verantwortlich sein. Doch plötzlich hört er, dass im Nebenzimmer gefoltert wird. Sein Bruder Michal, geistig zurückgeblieben, wird dort verhört und soll auch schon gestanden haben. An Michal hat Katurian Eini-ges gutzumachen. Die Eltern haben das Kind jahrelang gefoltert, weil dessen Schmerzensschreie Katurians schöpferische Phantasie beflügelten. Dafür hat er sie als Kind einst umgebracht. Die beiden Polizisten teilen sich die Arbeit. Der eine gibt den „guten Bullen“, diskutiert literarische Perspektiven mit dem Autor, der „Böse“ will foltern. Als sein Bruder ihm gesteht, wirklich einem Jungen, ganz wie in der Ge-schichte, die Zehen abgehackt zu haben, tötet ihn Katurian und versucht sein Werk zu retten - seine Exekution ist beschlossene Sache. Ist er schuldig? Eine Geschichte über die Kraft von Geschichten, voller Haken und falscher Fährten. Zunächst tiefschwarze Kriminalkomödie, nimmt sie Anleihen bei Märchen, Horror und Farce, bei Kafka und James Bond. Katurian ist kurz davor, sich in Geschichten zu verlieren, zwischen den Grenzen von Fakt und Illusion. Souverän wird zwischen Zei-ten gewechselt, werden Köder und Fallen gelegt. Katurians Geschichten führen durch das Stück, bilden das Gerüst und führen zurück in eine hyperreale Kindheit. „Der Kissenmann“ wurde im November 2003 in London uraufgeführt. Die deutsch-sprachige Erstaufführung fand wenige Tage danach am Wiener Burgtheater statt. Am 22. Februar 2004 wurde „Der Kissenmann“ (The Pillowman) in London mit dem „Laurence Olivier Award“ als bestes neues Stück („best new play“) ausgezeichnet.mit: Ralf Lichtenberg (Katurian), Rolf Germeroth (Tupolski), Johannes Langer (Ariel), Olaf Danner (Michal), Adelheid Bräu (Mutter), Gunter Heun (Vater)
- Regie:
- Schirin Khodadadian
- Bühne:
- Svea Kossack
- Kostüme:
- Svea Kossack
Premiere am
Werkstatt/Junges TheaterKulturkanal
– 03.12.2004
Eine kluge, eine packende Aufführung.
Ein Stück voller Grausamkeiten, das Begeisterung, ja sogar hie und da Gelächter auslöst.
„Der Kissenmann“, der raffiniert geschriebene Psychothriller des 34jährigen britischen Erfolgsautors Martin Mc Donagh hatte gestern abend in der Werkstattbühne des Theaters Ingolstadt Premiere.
Die Frage, ob etwa gewalttätige Jugendliche sich von Horrorfilmen zu ihren Taten anregen lassen, interessiert den anglo-irischenAutor Martin Mc Donagh nicht wirklich, obwohl ein Handlungsstrang seines Thrillers davon erzählt, dass wohl irgendjemand die Gruselmärchen, die sich ein literarisch bisher erfolgloser Schriftsteller ausgedacht hat, in der Realität ausgeführt hat.
Die Geschichte von einem Mädchen etwa, das seinem gewalttätigen Vater Äpfel mit versteckten Rasierklingen zu essen gibt und schließlich selbst an diesen Apfelmännchen erstickt. Oder die Geschichte von einem Jungen, dem ein mysteröser Fremder – aus Dankbarkeit – die Zehen abhackt, um ihn davor zu bewahren, dem Rattenfäger von Hameln folgen zu müssen. Es sind offenbar, so behaupten es die Zeitungen und die Polizeibeamten in einem totalitären Staat, Kindermorde nach demVorbild dieser Gruselgeschichten passiert. Wird der Schriftsteller für die Morde verantwortlich gemacht? Doch niemand , außer demSchriftsteller selbst und seinem geistig zurückgebliebenen Bruder kennt diese Geschichten.
Martin Mc Donagh, seit „Kissenmann“ Shooting-Star auch der gesamteuropäischen Theaterszene, hat kein Problemstück mit soziologischem Anliegen geschrieben.
Und er trifft gerade deshalb den Nerv einer postmodernen Bedürfnislage, in der Horror und Comedy, Grimms Märchen und reale Menschenrechtsverletzungen , erlittene, geschönte oder erfundende Biografien, Dokumentation und Entertainment, reality und fantasy einen gleichwertigen Konsumwert aufweisen.
Mc Donagh erzählt wie seine Hauptfigur, der Schriftsteller Katurian, ganz einfach Geschichten.
Viele Geschichten. Gute Geschichten.
Er erzählt einen Politkrimi von einem Schriftsteller, der sich in einem Folterkeller zum Polizeiverhör wiederfindet , ohne zu wissen warum. Dem aber schnell klar wird, mit seiner Exekution ist zu rechnen. Erzählt wird von seinem geistig zurückgebliebenen Bruder, der eine Türe weiter gefoltert wird. Oder vielleicht auch nur gemütlich ein Schinkenbrot verzehrt, zwei Kindermorde gesteht, und hie und da ein bißchen schreit, weil der Bulle ihn so nett darum bittet.
Es gibt die Geschichte einer Rückblende ins Elternhaus des Schriftstellers und seines Bruders: Schreckliche Kindheitserfahrungen , Folter des einen, um die Fantasie des anderen zu forcieren - mit der Folge Elternmord.
Und es gibt natürlich die Geschichten, die der Schriftsteller Katurian erfunden hat. Gruselmärchen allesamt,in denen Kinder Opfer von Gewalttaten werden.
Und Mc Donagh verzahnt all diese Geschichten so raffiniert miteinander und ineinander, dass von Regie, Darstellern und Zuschauern kriminologische und psychologische Logik gefordert sind, um auf dieser Achterbahnfahrt mit unerwarteten Kehrtwendungen zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, aber auch zwischen blutigem Ernst und makabrem Humor nicht aus der Kurve zu fliegen.
Man kann Gefahr laufen, dieses Stück auf einer kafkaesken Fantasieebene zu spielen, in der die Grenzlinien zwischen Realität und Fiktion, Wahrheit und Mutmaßungen von vornherein und durchgängig verwischt sind. Das kann eindrucksvolle Bühnenlösungen ergeben, würde aber Mc Donaghs provokante Genremixtur domestizieren.
Regisseurin Schirin Khodadadian setzt in der Realität an. Wir sehen in der Ausstattung von Svea Kossack eine Mischung aus mit fahlem Gelblicht beleuchtetem Folterkeller mit lärmendem Ventilator, verschlissenen Tapeten und einem Polzizeiarchiv aus wandfüllenden Aktenschränken und Schubladen.
Wir werden eingestimmt auf politische Betroffenheit in einer realistischen Situation wie in einem Politthriller der 70er Jahre über eine Diktatur in Südamerika oder in einem stalinistischen Land.
Mit perfider Sanftheit löst Khodadadian diese und weitere Erwartungs-Raster auf. Die Regisseurin macht in unterschiedlichen Abstufungen und mit unterschiedlichen Mitteln die Unschärfen deutlich, wenn gedankliche Abschweifungen, wenn Erinnerungen oder Tagträume, wenn Vermutungen und Befürchtungen real zu werden scheinen. Oder real werden. Und noch irritierender: Wenn Verhördialoge komisch sind und grotesk überzeichnete Familienszenen über schlimmste Kindesmißhandlungen informieren.
Die Aktenschränke des Folterkellers werden geöffnet, dahinter sehen wir eine idyllische grüne Hügellandschaft und erzählt – gottseidank nicht vorgespielt – wird die Geschichte von einem kleinen Mädchen, das die Passion Jesu mit Kreuzigung und Lanzenstich erleiden will und muss.
Oder ganz unspektakulär, noch vor Stückbeginn: Der Delinquent sitzt mit verbunden Augen im Folterkeller.Wasser tropft von der Decke, das monotone Geräusch löst beklemmende Assoziationen an den Stillstand der Zeit vor einer Hinrichtung aus. Dann kommt ein Bulle herein und verstopft das tropfende Loch mit seinem Kaugummi. Angekommen in der banalen Realität. Ätsch an alle Metaphoriker. Vorerst. Diese Geisterbahnfahrt erschreckt mit realem Psychoterror und – viel schlimmer – irritiert mit gepflegter Boulevardkomödie.
Die abgehackten Zehen in der Keksdose, ein Kind, das sich als Reinkarnation von Jesus fühlt und kreuzigen lässt und am dritten Tag als grünes Schweinchen wiederaufersteht, zwei Bühnenmorde auf offener Szene – das schluckt man ja alles im Theater. Was einem wirklich an die Nieren geht in diesem Stück: Mc Donagh reizt die Schmerzgrenze nicht nur durch Horror aus. Sondern richtig heftig ist das Stück dadurch, dass der Autor auf infame Weise die Zuschauer ständig zum Lachen bringen will über oder zumindest inmitten all dieser Grausamkeiten. Dieses frivole Spiel mit dem enthemmten Unterhaltungsreflex der Fun-Generation ist ein Härtetest für die Geschmackssicherheit der Regisseurin und der Darsteller, den Schirin Khodadadian und ihr hervorragend geführtes Ensemble – auf Kontinentalhumor zugeschitten - ohne Ausrutscher bestehen.
Viel an humoristischer Freude kommt auf über die subtil gearbeiteten Nuancen im Spiel der Darsteller.
Rolf Germeroth, der sich „der gute Bulle“ nennt, verführt die von makabren Details gebeutelten Zuschauer zu unfreiwilligem Amüsement über sein präzises Spektrum an süffisant-gefährlicher Jovialität und fieser Freundlichkeit , mit der er den Delinquenten verhört.
Und Johannes Langer spielt den brutalen Folterer mit missionarischer Melancholie. Als wäre auch er ein alter ego des Kissenmanns, jener Märchenfigur aus Katurians Geschichte, die Kinder zu einem gnädigen Unfalltod begleitet, um sie vor einem schweren Leben, das im Selbstmord enden wird, zu bewahren.
Dieser Folterknecht fühlt sich als Weltverbesserer, der die Welt mit seinen Schlägen vor Kindheitstraumata in Schutz nehmen will.
Olaf Danner als Michal muss keine Psycho-Show abziehen, um debile Freude und Unschuld auszudrücken und den grausamen Kindermörder beängstigend liebeswert zu machen. Das Erschrecken wird gespiegelt in der Verzweiflung und der behutsam-zärtlichen Zuwendung seines Bruders - bevor er ihm das Kissen aufs Gesicht drückt. Um ihn vor dem Geständnis des dritten, des schrecklichsten Kindermordes zu bewahren? Doch Jesus lebt – denn die Lieblingsgeschichte von Michal ist doch die vom kleinen grünen Schweinchen? - So verwirrend sind die „Wendungen“ in diesem Stück.
Im Zentrum der Aufführung steht Ralf Lichtenberg als Katurian. Zunächst eher harmlos wirkend, ein politisch weltfremder Fantast eben, einer, der zwischen Anpassung an die Obrigkeit und kleinen Schrifstellereitelkeiten schwankt, wird Lichtenberg immer mehr zum Leuchtturm in der Orientierungslosigkeit der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Er hofft auf die Kraft der Argumentation und ebenso auf die besänftigende Wirkung der Worte eines Delinquenten im Verhör, der seine Situation genau einzuschätzen versucht und der seine intellektuelle Überlegenheit sofort zügelt, wenn er sich Vorteile davon verspricht.
Ralf Lichtenberg ist eine unmittelbar authentische Bühnenfigur. Und wir sehen in jedem Augenblick, welche Gedanken in seinem Kopf rattern, wie er die logischen Fäden zwischen Wirklichkeit und Bluff zu entwirren trachtet und alle Verknüpfungsmöglichkeiten seines fantasiebegabten Gehirns rotieren lässt, um vom Opfer zum Drahtzieher zu werden .
Und ganz wunderbar, auch als Regieeinfall, ist sein hysterischer Lachanfall über den Titel der Bekenntnisgeschichte des Polizeiinspektors, das unkontrollierte Gelächter, das sich im Zustand völliger psychischer Überforderung an der albernsten Stelle Bahn bricht.
Adelheid Bräu ist gnadenlos ansteckend in ihrer Honigbrotschmier-Comedy und Gunter Heun assistiert bei dieser grotesken Frühstücksszene mit dem makabren Hintergurnd von jahrelanger Kindesfolter und Elternmord.
Auch in dieser Szene hat Schirin Khodadadian den Balanceakt bewältigt, gegen die mit Betroffenheitschwere belastete Szene die wohltuend groteske Übertreibung auf die Waagschale zu werfen.
Die Regisseurin überwältigt den Zuschauer nicht mit Nervenkitzel oder Lachreflex. Sie führt mit enormer Sicherheit in der Wahl der szenischen Mittel durch den Irrgarten aus Horror und Komik, kriminalistischer Psycho- Logik, der Faszination von Gruselmärchen und eigenen Fantasien.
Eine kluge, eine packende Aufführung.
Nachbemerkung: Das Stück „Der Kissenmann“ dauert drei Stunden. Hätte man den Text nach der Pause kürzen können, nachdem man auf die blasphemische Wirkung eines gekreuzigten kleinen Mädchens verzichtet hat?
Gegenfrage: Hat sich jemand , außer in der Pause, gelangweilt?
Und im übrigen: Wissen Sie noch nicht, dass es längst wieder out ist , in der Theaterpause zu gehen.
Man könnte z.B. eine wunderbare Lachnummer verpassen, oder die tragische Frage, ob Katurian seinen Bruder nicht umsonst umgebracht hat und ein märchenhaft versöhnliches, geradezu weihnachtliches Schlußbild.