Nathan der Weise
Ein dramatisches Gedicht von Gotthold Ephraim Lessing
Jud’ und Christ und Muselmann vereinigen – ein süßer Wahn? In einer einzigen Nacht verliert der Jude Nathan in einem von Christen verübten Terroranschlag seine ganze Familie. Seine Frau und seine sieben Söhne sterben. Doch Nathan denkt nicht an Rache, sondern an Vergebung. Er nimmt ein christliches Waisenmädchen namens Recha an Tochterstatt an. Durch sie beendet Nathan die Spirale der Gewalt, die ewige Geschichte, die Gleiches mit Gleichem vergilt.
Mit dieser Handlung verschlungen ist eine zweite, die an den Hof des Sultans Saladin führt. Vom Sultan gefragt, welche Religion die wahre sei, antwortet Nathan mit der Ring-Parabel, die von der Gleichberechtigung aller drei Weltreligionen erzählt.
240 Jahre nach Lessings Nathan, mit Blick auf Terror und anhaltende (Glaubens-) Kriege, ist Lessings Utopie gegenseitiger Toleranz bis heute uneingelöst. Vielen gilt der Dialog der Religionen als aussichtslos und naiv. Produktionsdramaturg Donald Berkenhoff zu der Frage: »Sind die Maxime Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit süßer Wahn?«
»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren immer nur Forderungen, die Erfüllung gab es nie, oder: Wir arbeiten noch daran. Aber wenn man Lessings ›Nathan‹ liest, dann hat man den Eindruck, die Gesellschaft war schon mal weiter. Wir erleben gerade eine Renaissance der Religionen. Mit unglaublicher Brutalität wird gegen Ungläubige jeglicher Couleur vorgegangen. Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, wie man das Ende von ›Nathan‹ spielen soll, außer dass man es als Märchen zeigt, was es ja schon immer war. Lessing mogelt sich auch aus der Problematik raus, indem er plötzlich alle blutsverwandt sein lässt. Und diese große Patchwork- Familie versöhnt sich. Ein Märchen, was sonst?«
mit: Ingrid Cannonier, Mira Fajfer, Katharina Solzbacher, Olaf Danner, Ulrich Kielhorn, Moritz Löwe, Béla Milan Uhrlau, Matthias Zajgier
- Regie:
- Marco Štorman
- Bühne:
- Jil Bertermann
- Kostüme:
- Anika Marquardt
- Musik:
- Thomas Seher
- Dramaturgie:
- Donald Berkenhoff
- Regieassistenz:
- Mona Sabaschus
- Inspizienz:
- Annette Reisser
- Souffleuse:
- Ulrike Deschler
Premiere am
Großes Haus
»[Die Inszenierung] ist konzentriert, wohl dosiert, leise, nachdenklich, regelrecht traumwandlerisch und stößt je länger je bestimmter zum Herz der Stückvorlage vor.
Štorman macht das ja regelmäßig in Ingolstadt: Klassiker neu erzählen und zugleich gezielt in die Motivlage der Texte vorstoßen. Das war beim ›Käthchen von Heilbronn‹ so, als er Kleists Stoff konsequent als Märchen reorganisierte, beim ›Hamlet‹, den er zu einer Diskussion um Handlungsoptionen umcollagierte, und das macht er jetzt auch beim ›Nathan‹: Textfläche weiträumig umstellen, Stück neu erzählen und dennoch in dessen Spur bleiben, es anders geschichtet im Kern wieder entdecken. Der Ingolstädter ›Nathan‹ ist eine Meditation über die Menschlichkeit. (…)
Marco Štorman präsentiert längere Bruchstücke aus Lessings Text und zeigt die Religiösen nahezu ohne den ihnen zugeschriebenen Furor. Stattdessen versuchen sie, sich eher gegenüber als gegeneinander zu positionieren. Das ist klug und überzeugend konzipiert, weil die Zuschauer auf diese Art eingeladen werden, sich selbst mit zu positionieren. Die Regie bietet dazu immer wieder auch Mittel des epischen Theaters an: Gesang, Ansprache des Publikums, ein Ensemble, das beständig auf der Bühne bleibt und Handlung spiegelt. (…)
Und mit Spielern, die ihren Rollen eine beiläufige Ernsthaftigkeit verleihen, gerade so viel, um als Bedeutungsträger zu erscheinen, aber nicht so viel, dass Verbrüderung angebracht wäre. Um Brüderlichkeit geht es nämlich gar nicht. Es geht um Mitmenschlichkeit.«
»Marco Štorman setzt in Ingolstadt auf Radikaldekonstruktion. In nicht einmal eineinhalb Stunden legt er so Abgründe frei, die bis dato zugeschüttet waren von der berühmten Ringparabel und dem Gutemenschentum, das sich über die Zeitläufe an sie geheftet hat. (…) Die Inszenierung trägt strakt performative Züge und kommt sehr spielerisch daher. Das Naiv-Kindliche ist natürlich gewollt, gehört zum Konzept einer spannenden Dekonstruktion des vermeintlichen Wir-haben-uns-alle-lieb-Klassikers.«
»Man ist berührt (...), schreibt der Donaukurier über die Ingolstädter Inszenierung von »Nathan der Weise«, in der »Regisseur Marco Štorman einen klugen, radikalen und überzeugenden Zugriff [wagt], indem er Lessings fast 250 Jahre altes Stück über Humanität und Toleranz mit heutigen Fragen konfrontiert. Uns damit zum Nachdenken über unsere eigene Haltung zur aktuellen Situation, zu Solidarität, Freiheit, Angst, Fremdsein bringt.«
Insgesamt sei alles » (...) intensiv durchdacht und mit Witz, Raffinesse und großem Kunstsinn gemacht. Von Anika
Marquardts Kostümen bis zu Thomas Sehers cineastischem Soundtrack. Vor allem die Schauspieler sind hoch konzentriert, sprechen Lessings Blankverse unverkrampft heutig und vermögen alle in ihren Rollen zu
überzeugen.«
»Eine überraschende und bewegende Wendung nimmt die skeptische Inszenierung am Ende. Dahin hat der Regisseur ganz schlicht und eindringlich den Dialog mit dem Klosterbruder gesetzt, wo Nathan vom Pogrom in Gath erzählt, dem seine Frau und die sieben Söhne zum Opfer gefallen sind. Der zweifellos interessante Zugriff auf das Stück lässt letztendlich die Frage offen, ob damit dem Verständnis des Lessing-Textes aufgeholfen wird. Eindeutig aber ist, dass Štorman dessen Mut machender Botschaft misstraut, (...)«