Sommersalon
von Coline Serreau
Deutsch von Marie Besson
Zeitfenster öffnen sich. – Ein Sommersalon ist der Ort, an dem sich im Laufe eines Jahrhunderts immer wieder drei verschiedene Gesangsquartette zum Proben versammeln. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert stehen Atia und Margot sowie Sacha und Daniel vor der Qual der Wahl, ob sie miteinander oder ohne einander leben wollen. Einhundert Jahre früher prägt nicht die freie Entscheidung, sondern das Korsett der Konventionen die Harmonie der Sänger. Louise liebt Henri, der in Mathilde vernarrt ist, die wiederum unterdrückt ihre Gefühle für Gustave. In jeder Epoche kommt es zwischen den zwei Frauen und den zwei Männern zu Liebe und Eifersucht, Zank und Friedensküssen, zu Abschied und Wiedersehen. Und wenn Differenzen, komische Missverständnisse und Marotten die vier Sänger auch mal auf getrennte Wege führen, so bringt sie der gemeinsame Gesang doch immer wieder zusammen. Nur einmal scheint das Quartett für immer zerstört: David, der Bass, ist Jude und wird an die Gestapo verraten und deportiert. Er überlebt den Holocaust und wagt mit seiner Rückkehr in das Quartett den ersten Schritt zur Versöhnung.
Coline Serreau entführt auf eine theatralisch musikalische Zeitreise und verbindet mit Witz und Poesie drei tragikomische Geschichten aus drei Generationen, die obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten, doch eines miteinander verbindet: die Leidenschaft zur Musik. In »Les Echos« hieß es anlässlich der Uraufführung: »man lacht, man weint ein wenig, man hat Lust zu singen. Ein ungewöhnlicher Abend und ein wunderschöner.«
»Musik begleitet dieses Stück, alte und zeitgenössische Werke werden frei gemischt, – um die Worte abzulösen, wenn sie das Unsagbare nicht mehr auszudrücken vermögen, und um uns den wahren Gemütsbewegungen anzunähern, die uns im Innersten treffen.«
Coline Serreau
mit: Renate Knollmann (Atia/Louise/Germaine), Denise Matthey (Margot/Mathilde/Anette), Enrico Spohn (Sacha/Gustave/Arnold), Thomas Schrimm (Daniel/Henri/David), Verena Wagner (Flöte), Benedikt Streicher (Piano)
- Regie & Musikalische Leitung:
- Patrick Schimanski
- Kostüme:
- Charlotte Labenz
- Dramaturgie:
- Paul Voigt
- Inspizienz:
- Heidi Groß
- Regieassistenz/Soufflage:
- Verena Wagner
Premiere am
Studio im Herzogskasten
»Die dritte Premiere des Stadttheaters Ingolstadt in dieser Spielzeit setzt wiederum einen neuen Akzent. Nach der Komödie ›Ein Mann, zwei Chefs‹ im Großen Haus und dem zeitgenössischen Schauerdrama ›Grillenparz‹ ist ›Sommersalon‹ im Studio im Herzogskasten ein feinsinniges Divertimento über die Gefühlslagen eines Quartetts in unterschiedlichen historischen Konstellationen. Ein Gesangsquartett probt in drei Zeitepochen Musikstücke von der Renaissance bis zum Gospel, streitet sich, verliebt sich, trennt sich und findet doch wieder im Singen zusammen.
2 Männer und 2 Frauen spielen also 12 Figuren und zwar in 9 ineinander verschränkten Episoden, in der Gegenwart, im 19. Jahrhundert und in der Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich. Die Handlungsfäden werden wiederaufgenommen und weitergesponnen, Liebende trennen sich, nicht Verliebte finden zueinander, es gibt komische Momente und Psychodramen, musikalische Glücksmomente, vor allem aber zwischenmenschliche Krisen. Das ist die Struktur, die die erfolgreiche französische Komödienspezialistin Coline Serreau ihrem Theaterstück ›Sommersalon‹ gegeben hat.
Der Genuss dieser Aufführung liegt darin, wie wunderschön und stilsicher dieses Schauspielerquartett die schwierigsten vierstimmigen Sätze des Renaissancekomponisten Jannequin, von Bach, Johannes Brahms bis Arnold Schönberg, groovige Spirituals oder Ensembles aus Mozart- und Rossiniopern singt. Vor allem die beiden Soprane Denise Matthey und Renate Knollmann klingen sichtlich an klassischem Gesang geschult, aber auch Enrico Spohn und Thomas Schrimm ergänzen das Quartett exakt und klangschön.
Der Zauber dieses Theaterabends aber besteht darin, wie liebevoll und delikat Regisseur Patrick Schimanski und die Darsteller 3 unterschiedliche Zeitepochen lebendig werden lassen und 12 zeittypische Charaktere ausgearbeitet haben.
Liebe, Eifersucht, Rivalität, Aversionen, Leidenschaft, Frust und Trennung – die zwischenmenschlichen Probleme in einer Zweckgemeinschaft aus zwei Männern und zwei Frauen mögen sehr ähnlich sein. Aber der Umgang damit, wie die Menschen Rivalitäten austragen, sich auf die Nerven gehen, ihre Liebe bekunden oder still vor sich hin leiden,ob flapsig oder sentimental, dezent oder offensiv, der Sprachstil und die kommunikativen Attitüden der Liebeserklärung oder der Trennungsansage sind im Laufe eines Jahrhunderts einem starken Wandel und Zeitgeschmack unterworfen - wie die Kleidermode und die Musik.
Renate Knollmann verwandelt sich von der umtriebigen Aktionistin von heute, in die elegische Biedermeierdame und in die lebenstüchtig-verständnisvolle, aber unglückliche Frau im Umfeld der Nazi-Besatzung. Großartig wie Thomas Schrimm als der durch plump gegrumelte Kalauer provozierende Gemütsmensch-Bass von heute als Salonlöwe des 19. Jahrhunderts seine Liebe und seine Bauchschmerzen im zartesten Falsett säuselt. Und wie er als Jude im besetzten Frankreich die Dezenz des Ja-nicht-Auffallens verinnerlicht hat, selbst im Flirt und im durchaus komischen Vorspielen seiner Diplomaten-Worthülsen . Ergreifend geradlinig und zurückhaltend berichtet er schließlich von seiner Deportation nach Dachau.
Ist das wirklich dasselbe Gesicht dieser Figuren von Denise Matthey? Diese missmutig- resolute junge Lesbe von heute, die gezierte Salondame im 19. Jahrhundert und das verschlossen traurige junge Mädchen, das ihre große Liebe im Holocaust umgekommen glaubt?
Und Enrico Spohn, der steife Gockel aus dem 19. Jahrhundert wird mit Sartre-Brille verblüffend authentisch zu einem blutleeren jungen Intellektuellen der 1940er Jahre und erbärmlichen Kleingeist, als seine Verlobte sich ausgerechnet einem älteren Juden zuwendet.
Vor allem Renate Knollmann und Enrico Spohn wissen durchaus auch, wie man komödiantische Pointen setzt.
Ergänzt wird das Quartett durch einen musikalische Schutzengel an Klavier, Harmonium und Heimorgel, die darstellerisch dezent mitspielende Ekaterina Isachenko.
Regisseur Patrick Schimanski ist auch Komponist und Musiker. Er hat ein feines Gespür für Zwischentöne und stilistische Feinheiten, für unterschiedliche Tempi und Stimmungslagen und hat einen feinsinnigen Weg gefunden, die Atmosphäre unterschiedlicher historischer Konstellationen zu verdichten. Nicht mit der Behauptung der Authentizität wie in vielen Historienfilmen, sondern mit liebevoller Einfühlung und vor allem einer Prise komödiantischen Augenzwinkerns.
Ein bisschen parfümierte biedermeierliche Sentimentalität dort, ein bisschen flapsige Ruppigkeit heute und selbst in der Nazizeit neben dem Psychodrama ein Quäntchen Missverständnis-Komik, die in diesem Fall allerdings bereits von Coline Serreau angelegt ist. (...)
Sogar aus den vielen Kostümwechsel bei einem Dutzend Zeitsprüngen zwischen den Szenen sind Inzenierungshighlights geworden. Ausstatterin Charlotte Labenz hat Kostüme mit allen Accessoires wie Perlenketten, Einstecktuch, Bluse mit Lederjacke entworfen, die durch einen - beim ersten mal witzig ryhthmisch aufgerissenen - Klettverschluss im Rücken schnell und auch manchmal mithilfe der Bühnenpartner angezogen werden können. Und es ist ein besonderer Reiz, wie variantenreich diese Übergänge umgesetzt sind. So singen die Darsteller noch von der vorausgegangen Szene ein Gospel, während sie in die Biedermeierkleider schlüpfen oder vom Rivalen der folgenden Szene in die enge Jacke der 1940er Jahren gezwängt werden.
Eine wunderschöne, feinnervige Regiearbeit und großartig singende und spielende Darsteller machen ›Sommersalon‹ zu einer Aufführung, die so gut fürs Gemüt ist wie der Soul und die Musik von Bach, Mozart, Rossini oder Johannes Brahms.«
»Dass die musikalische Zeitreise der französischen Schauspielerin, Filmemacherin und Autorin Coline Serreau (Jahrgang 1947) auf den Spielplan des Stadttheaters gefunden hat, dafür könnte es eine einleuchtende Begründung geben: Das 1998 in Paris uraufgeführte Stück ›Sommersalon‹ bietet gesanglich begabten Schauspielerinnen und Schauspielern, über die das Ingolstädter Ensemble reichlich verfügt, eine vorzügliche Möglichkeit zur Demonstration ihrer Kunstfertigkeit.
(...) Und dies ist das eigentliche Ereignis der Aufführung: Renate Knollmann, Denise Matthey, Enrico Spohn und Thomas Schrimm singen geradezu perfekt, ein reiner Genuss, ganz erstaunlich – Verdienst nicht zuletzt der höchst professionellen Einstudierung durch Ekaterina Isachenko, die auch mit Charme an drei Tasteninstrumenten agiert, gelegentlich unterstützt von der Flötistin Verena Wagner. Patrick Schimanski zeichnet für die geglückte musikalische Einrichtung und die eher belanglose Regie verantwortlich. Charlotte Labenz hat attraktive zeitbezogene Kostüme gestaltet, die amüsanterweise auf offener Bühne gewechselt werden.
Das brillante Vokalensemble wurde nach der Premiere mit riesigem Beifall gefeiert.«