Lucky Happiness Golden Express
von Noah Haidle
Deutsch von Brigitte Landes
Und plötzlich lag seine ganze Geschichte offen vor ihm. – Klar, das »Lucky Happiness Golden Express« ist ein billiges, chinesisches Schnellrestaurant. Jeden Freitag kommt ein alter Mann und fragt, was das Tagesgericht sei. Freitags ist das Tagesgericht immer »Huhn Gung Bo«, so auch an diesem Freitag. Zwei Kellner ertragen den alten Mann seit Jahren, vordergründig höflich, zeigen sie ihm doch ihre Verachtung. Und an diesem Tag erscheint noch eine einsame Lady, die sich sofort zwei Gläser Wein bestellt. Und plötzlich verschwimmen die Konturen, die fremde Frau wird zur Ehefrau des Mannes, die beiden Kellner zu seinen Töchtern. Ein Gewitter naht, und als der Blitz einschlägt, fällt der alte Mann mit einem Schlaganfall vom Stuhl. Im Krankenhaus erscheint seine ganze Familie, Töchter, Schwiegersohn und schließlich auch noch die Frau, die vor Jahren ihn und die gemeinsame Familie verließ. Auch hier verschlingen sich die zeitlichen Ebenen. Die Töchter planen, den Vater »zu erlösen«, sie wollen an die Lebensversicherung.
Am Tag nach der Beerdigung des Mannes halten sich die Ex-Ehefrau und die Tochter in einem Hotelzimmer auf. Zufälligerweise ist es das Hotelzimmer, in dem die Hochzeitsnacht des Elternpaares stattfand. Die Tür fliegt auf, und das Brautpaar tritt auf. Die Ebenen durchdringen und kommentieren sich. Die Braut in doppelter Ausführung (jung und alt) handelt und beurteilt sich. Vergangenheit und Gegenwart werden egal. Was heißt Vergangenheit, wenn der Schmerz der Vergangenheit noch akut ist, und das Heute beeinflusst?
Haidles Stück ist ein Märchen, das die Grenzen von Fantasie und Realität auflöst und ständig fragt, was Erinnerung ist, und ob man sich auf sie verlassen kann. »Lucky Happiness Golden Express« erzählt in Rückblenden mit umwerfendem Witz, großartigen Figuren und mit Leichtigkeit von der Illusion des Glücks.
»Hitchcock-like. Nein, das ist kein Krimi, eher eine ziemlich traurige Geschichte über die Einsamkeit in den großen Städten und die Jagd nach der Glücksverheißung. Dabei arbeitet der Dramatiker virtuos und filmisch mit Zeitsprüngen, Rollenwechseln, Überblendungen und Zwischen-Welten.«
Die Deutsche Bühne
mit: Ingrid Cannonier (Vivian), Sascha Römisch (Andrew), Patricia Coridun (Thump/jüngere Vivian/Langley), Béla Milan Uhrlau (Jock/jüngerer Andrew/Steven/Martin), Denise Matthey (Andrea/Missy)
- Regie:
- Dr. Kathrin Mädler
- Ausstattung:
- Mareike Delaquis Porschka
- Dramaturgie:
- Donald Berkenhoff
- Regieassistenz:
- Mona Sabaschus
- Soufflage:
- Susanne Wimmer
- Inspizienz:
- Eleonore Schilha
Premiere am
Kleines Haus
»Was für ein wunderbarer, zu Herzen gehender Theaterabend, an dem man aber auch über flapsige dialogische Pointen und die überraschend komödiantische Struktur dieses Stücks lachen konnte.
Mit einer spielerischen Balance zwischen Witz und Melancholie, mit liebevoller Akribie und den witzigen Ausstattungsdetails von Mareike Delaquis Porschka hat Kathrin Mädler Noah Haidles Puzzle aus lebendig werdender Vergangenheit, dem Traum vom Familienglück und einer enttäuschenden Gegenwart inszeniert. Das in diesem Stück vielzitierte ›Glück wie es sein sollte‹ kann man abwandeln. Diese Aufführung mit einem hinreißend differenziert agierenden Schauspieler-Quintett beschert ein Theaterglück ›wie es sein sollte‹.
(...) Es ist ziemlich lustig, wie sich Sascha Römisch, als der im Koma röchelnde Familienvater plötzlich aufrichtet und putzmunter von der unvergesslichen Nacht am Meer mit seiner späteren Frau schwärmt und bedauert, was er seinen Töchtern alles erzählt oder nicht erzählt hat. Und es ist gleichzeitig auch sehr traurig. Aber nicht sentimental, weil diese letzte Lebenssehnsucht eines Sterbenden durch die umwerfende Komik gebrochen ist, dass die anderen Familienmitglieder die vorangegangene Abschiedsszene stumm, im Zeitraffer, rückwärts spielen.
Kann man sein Leben an einem Punkt anhalten und – wenigstens eine Szene – noch einmal neu leben? Oder zumindest alles aus einer anderen Perspektive sehen, der des Sterbenden, von dem alle glauben, er bekäme sowieso nichts mehr mit. Auch nicht, dass Tochter und Schwiegersohn mehrmals ansetzen mit einem Kissen sein Sterben zu verkürzen. Weil ›Gnade‹ und das Kassieren der Risikolebensversicherung in diesem Fall das gleiche bedeuten.
Wie genau beobachtet und auch wie raffiniert der amerikanische Autor Noah Haidle geschrieben hat, erweist sich auch in der nächsten Szene. Nach der Beerdigung in einem Hotelzimmer. Die demente Mutter erinnert sich an ihre Hochzeitsnacht. Und die Darsteller ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns, Patricia Coridun und Béla Milan Uhrlau sind nun das junge Paar von damals. Verschränkte Dialoge von Mutter und Tochter heute, Mutter und Vater in der Hochzeitsnacht zeigen witzig und tragisch die verlorenen Glückserwartungen im Spiegel eines eigensinnigen, verwirrten Gehirns.
Großartig, wie Ingrid Cannonier die Stimmungswechsel einer senilen Frau zwischen trotzigem Kind, Verängstigung („Habe ich was falsch gemacht?“), liebevoller Zuwendung zu ihrer Tochter und aggressiver Abweisung und Momenten völlig normal wirkender Fröhlichkeit spielt. Und ebenso grandios gestaltet Denise Matthey die Situation der Tochter, die ihre Mutter mit duldsamer Routine und spontaner Herzlichkeit liebevoll behütet und auch wieder genervt ausbricht über die ständigen Wiederholungen und Realitätsverluste der Mutter:
Es ist komisch und tragisch, wie aus der Kellnerin im China-Restaurant und einem genervten Gast zwei kleine Kuchen backende Mädchen werden, als der Vater kurz vor seinem Schlaganfall den Abend erinnert, an dem er mit seinen Töchtern verhindern wollte, dass seine Frau die Familie verlässt. Und herzergreifend, wie Sascha Römisch die Einsamkeit dieses alten Mannes und damit eine der Kernfragen des Stücks verkörpert: Was ist aus dem Familienglück geworden, wenn man am Ende des Lebens zurückblickt?
Wie poetisch leicht und schwerelos Kathrin Mädler die Fallen des Stücks, die Hollywoodgeprägten Klischees von der Familienidylle und die Tiefsinnsschwere umschifft, zeigt sich auch in der Entscheidung, platten Realismus in der Ausstattung zu vermeiden. Stattdessen hat sie mir ihrer Ausstatterin Mareike Delaquis Porschka ganz zauberhafte Bühnenbild-Ideen entwickelt. Die wenigen Versatzstücke wie Krankenhausbett oder neonleuchtendes Hotelschild können von den Schauspielern in die Spielhandlung integriert aktiviert werden. Ein Glühlampenfunkelnder Baum reicht als Symbol für den american dream. Da hängen zwei schwarze Seile von der Decke. An ihnen zieht das junge Paar in der Hochzeitsnacht abwechselnd, um das Licht an- oder auszuknipsen. Vivian, die als alte Frau diese Szene ihres jungen Eheglücks beobachtet, betätigt ein Vorrichtung, sodass Schneeflocken romantisch nach unten rieseln. Und dieser kleine absurde Moment der Glückssehnsucht wird zu einem zarten Leitmotiv wie das erleuchtete Bäumchen.
Rote Ballonlampen schweben nach unten, wenn das China-Restaurant mit einem Schaukelbrett als schmalem Tisch etabliert wird. Und Patricia Coridun und Béla Milan Uhrlau umkreisen als Kellner in goldenen Rollschuhen die surreale Szenerie - aber nicht ohne in ihren Dialogen sehr handfest real über die verrückten Gäste zu motzen. Jedes Detail der Übergänge, wenn Erinnerungssplitter gegenwärtig werden, ist ebenso klug wie mit heiterem Augenzwinkern komponiert.
Und das betrifft auch die Arbeit mit den Schauspielern. Der liebevolle, auf seiner Illusion vom Glück beharrende und schließlich vereinsamte Vater von Sascha Römisch zeigt in seinen letzten Lebensmomenten etwas von der Vitalität und dem Charme des jungen Andrew. Ingrid Cannonier als seine große Liebe lässt auch im Alter noch etwas von ihrer jugendlichen Koketterie durchscheinen. Denise Matthey ist eindrucksvoll als die trotz ihrer Verletztheit ihre Mutter entsagungsvoll betreuende Tochter und auch als offenbar vom Alltag gebeutelter Single im China-Restaurant. Wie Béla Milan Uhrlau als Schwiegersohn vor der spanischen TV-Soap hockt und Fastfood futtert, während Patricia Coridun als seinen Frau ihm zwischen Sarkasmus und Emphase verklickert, dass er den Schwiegervater ins Jenseits befördern soll, ergibt ein bitter-komisches Bild einer kaputten Ehe. Und Patricia Coridun und Béla Milan Uhrlau können ebenso als junges Liebespaar und frustriert-gelangweilte Restaurant-Bedienungen begeistern.
Man kann einfach nur schwärmen von dieser Aufführung!«
»(…) Ziemlich verknotet, kurios, deshalb auch interessant ist die Dramaturgie in ›Lucky Happiness Golden Express« des 1978 in Michigan geborenen Noah haidle. Das Stück (…), nach dem China-Restaurant im Text, wurde 2013 am Staatstheater Kassel uraufgeführt – erstaunlich bei einem US-Autor.
Für das Kleine Haus des Ingolstädter Theaters hat Kathrin Mädler mit viel Geschick die in Teilen poesievolle Szenenfolge über verfehltes Familienglück eingerichtet. Die spärlich bestückte Bühne (Ausstattung Mareike Delaquis Porschka) deutet ins Surreale. Ingrid Cannonier in langer grauer Mähne trifft genau den Gestus der demenzkranken Mutter. Sascha Römisch als Todkranker animiert mit Grunzlauten einige Zuschauer permanent zum Kichern (das alte Theaterphänomen, dass Leid als lustig empfunden wird) und gibt sehr einfühlsam dann den betrübten einsamen Alten. In den Mehrfachrollen beeindrucken: Patricia Coridun und, besonders facettenreich, Denise Matthey sowie Béla Milan Uhrlau.
Das Premierenpublikum quittierte die sehenswerte Aufführung mit reichlich Beifall.«