Grillenparz (DE)
Deutsche Erstaufführung von Thomas Arzt
Eine ganze Nacht lang, offen für alles. – Was ist ein Grillenparz? Was sich anhört wie die Verballhornung des Namens eines berühmten österreichischen Dichters, entpuppt sich als ein Hügel, mitten in der Landschaft. Und da auf diesem Hügel die Grillen zirpen, hat er schnell seinen Namen weg. Normalerweise geht hier der Jäger auf die Pirsch, und die Grillen singen. In diesem Stück singen sie im Chor. Und sie singen von den ewigen Dingen des Lebens, von viel Gewalt und tröstlicherweise auch von Vergebung. Und einmal im Jahr wird der Grillenparz zur »location« eines »events«. Eine ortsansässige Firma braucht dringend Geld und auf dem Hügel werden die neuen, von allen misstrauisch beäugten, Hauptinvestoren gefeiert. Die Erinnerungen steigen hoch. Im letzten Jahr wurde schon einmal hier gefeiert und die Feier geriet außer Kontrolle, am frühen Morgen lag eine Leiche auf dem Grillenparz. Und nun treibt die Sommerfestgesellschaft auf eine Wiederholung des Verbrechens zu. Im Rausch verschwimmen die Grenzen von gestern und heute, die Meute enthemmt sich. Es ist Realität, aber keiner will sich dieser Realität stellen.
Thomas Arzt spielt auf vergnügliche Weise mit Klischeebildern von Heimatverbundenheit. »Grillenparz« ist ein vielschichtiges Stück über romantische Natursehnsucht und dunkle Triebhaftigkeit, über die Magie des Ursprungs und den Pragmatismus der Globalisierung.
Auf die Frage, was er mit dem Tatort Grillenparz sagen wolle, antwortet der Autor:
»Alle wollen ihm entfliehen. Und jeder würde es wieder tun. Tatort ist eine voralpine Binnenwelt. Zwischen Zivilstadt und Wildland. Zwischen Geldmensch und Geiltier. Zwischen Schweißbadetag und Spätsommernacht. Bestimmt in einer Binnensprache. Nicht mehr Volksmaul, noch nicht Staatsnorm. Nicht mehr Rohschnitt, noch nicht Figurenfleisch. Nicht mehr Naturgesetz, noch nicht Moral.«
mit: Victoria Voss (Hirsch), Ralf Lichtenberg (Stieringer), Leonie Merlin Young (Bambi), Jan Gebauer (Winni), Anjo Czernich (Fischer)
- Regie:
- Alexander Nerlich
- Ausstattung:
- Wolfgang Menardi
- Musik:
- Malte Preuss
- Regieassistenz:
- Hannah Lau
- Soufflage:
- Constance Chabot-Jahn
- Inspizienz:
- Annette Reisser
Premiere am
Kleines Haus
»(...) Auf dem Gipfel des Grillenparz hat sich eine illustre Festegesllschaft eingefunden, um die alljährliche Firmenfeier. (...) AUf der Bühne im Kleinen Haus in Ingolstadt geht's feucht-fröhlich zu, derbe Trinklieder werden geschmettert, es ist ein Massenbesäufnis in Oktoberfest-Manier. Die Firma will mit dem Fest die ausländischen Hauptinvestoren beeindrucken, deren Geld dringend benötigt wird. Ein geschäftiges Treiben herrschta uf dem Hügel, Einzelne reisen an, und die Personalchefin beobachtet besorgt den seltsamen Jäger, der auf seinem Hochstand lauert.
Dass das anschließende Trinkgelage trotz dialektaler Einfärbungen nicht in eine boerselige Tümelei ausartet, ist dem raffiniert zwischen vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen changierenden Stück des österreichischen Nachwuchsdramatikers Thomas Arzt zu verdanken. (...)
Die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse der letzten Betriebsfeier am selben Ort überschatten bald die ausgelassene Stimmung auf dem Hügel. Von Vergewaltigung und Mord im letzten Jahr wird gesprochen, deshalb flüchten sich die Angestellten lieber ins Delirium. Ralf Lichtenberg spielt den notgeilen Betriebsrat Stieringer als schmierigen Typen mit Pornobrille, der mit seinem Mordsdurst unangenehme Einzelheiten an seine Gewalttat verdrängt, während Carolin Schär, die in der Rolle der zarten Flora als traumatisierte Gretchen-Gestalt überzeugt, beständig von unangenehmen Erinnerungen heimgesucht wird.
Überhaupt ist die düstere Gesamtstimmung der vermeintlichen Naturidylle bereits im Bühnenbild von Wolfgang Menardi angelegt. Spärlich verteilte Hölzer deuten den Wals an, im Hintergrund klafft ein schwarzes Loch, das sich bei genauerem Hinsehen als schlammiger Tümpel herausstellt. Alexander Nerlich inszeniert den Hügel als beängstigend finsteren Schicksalsort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart, Albtraum und Rausch vermischen. (...)
Die dionysische Orgie bewegt sich irgendwo zwischen Walpurgisnacht und Maskenball und hält ihre Intensität bis zum blutigen Ende durch Das ›Sauf di' ins Paradies‹ der Trinkgemeinde mischt sich mit brutalen Sex-Spielchen, die die tierische Seite der Menschen hervorkehren. Die klingt bereits in den sprechenden Namen der Figuren an: Hirsch, Stieringer, Bambi. Das größte Tier steckt allerdings in der Außenseiterfigur des Jägers, den Wolfgang Menardi als halb nacktes Naturwesen etwas übertriebene Brunftschreie austoßen lässt. Er verkörpert die gewalttätige Triebhaftigkeit der Natur, die Arzt in seinem dystopischen Drama in Zusammenhang mit der Heimat bringt. ›Gewaltig ist's. Die Heimat‹, bemerkt Flora. Mit dieser hintergründig bösen Sicht auf die Heimat und einer poetisch verdichteten Dialektsprache reiht sich der Autor in die Tradition des kritischen Volksstücks à la Fleißer und Kroetz ein. (...)«
»Etwas bricht ein. Die Wirklichkeit hat nur eine dünne Tragschicht. Was darunter liegt, kann Blutstrom sein, oder Lava. Auf jeden Fall ist es ein Rätsel, dem gegenüber Worte nutzlos sind. Was bleibt, ist höchstens hochpoetisches Gestammel angesichts von klaffender Ohnmacht und innerer Zerrüttung der eigenen Existenz, hat sich erst das Hintertürl zur animalischen Herkunft, zum wilden Automatismus des Stammhirns geöffnet. In Thomas Arzts Stück ›Grillenparz‹, in dem ein Betriebsfest am gleichnamigen Hügel nicht im geplanten Besäufnis, sondern in einem plötzlichen Ausbruch von roher Gewalt endet, verschwinden die Tragschichten von Zivilisation und Realität. Regisseur Alexander Nerlich entfernt jetzt in seiner Inszenierung in der deutschen Erstaufführung des Stoffs besagte Tragschichten auch bildlich: Ausstatter Wolfgang Menardi hat ihm einen dunklen, brüchigen Alptraumwald hingestellt, durch den die Existenzen huschen wie Schatten.
Hirsch, Stieringer, Bambi heißen die Leute in dieser Bühnen-Parallelwelt, sie sich einander umspuken wie Waldgeister. Victoria Voss als ehrgeizige Personalchefin Hirsch starrt ins Weite, weil in der Nähe kaum Klarheit herrscht. Nerlichs Inszenierung verhackstückt Text und Bilder mit Taschenlampenchoreografie und Echoeffekten, um völlig klar zu machen, dass den Geschehnissen da auf der Bühne von Anfang an der trittsichere Boden entzogen ist. Stattdessen entsteht wundersam und klar Arzts Sprachkreation, ein poetisches Werk in der österreichischen Bühnentradition von Thomas Bernhard bis Werner Schwab. Leute wie die Arbeiterin Flora (Carolin Schär) vergewissern sich mit starken Worten ihrer Sprachlosigkeit. So verdichtet wie in dieser uhrwerkpräzisen Inszenierung entsteht auf der Bühne dann tatsächlich: Dichtung.
Um das äußere Geschehen geht es da nur am Rande. Es geht stattdessen um Abstraktion, um innere Bewegungen, um ein Geworfensein in eine Existenz, in die man nicht passt. Wunderbar anzusehen ist das beim Angestellten Winni (Jan Gebauer), in dessen Gesicht ein ständiger Kampf stattfindet zwischen guter Miene und bösem Spiel: ein Naivling, der mehr oder minder schuldlos zum Täter wird. Zart Leonie Merlin Young als Bambi, ausgestattet mit einem düsteren Unterstrom an Brutalität Ralf Lichtenberg als Betriebsrat Stieringer, ein archaischer Berggeist Wolfgang Menardi als Fischer/Jäger: Auch schauspielerisch ist dieser eineinhalbstündige Theaterabend glänzend. Düsterer Märchenwald im Kleinen Haus des Theaters Ingolstadt. Fabelhafte Fabelwesen. Bei der Premiere herrschte andächtige Stille im Publikum.«
»›Grillenparz‹, uraufgeführt 2011 in Wien als erstes größeres Stück des Oberösterreichers Thomas Arzt (Jahrgang 1983) handelt vom alljährlichen Betriebsfest einer Firma auf dem romantischen Hügel, dort wo die Grillen zirpen. Hinter klischeehafter Heimatduselei und Naturverbundenheit eröffnen sich Abgründe exzessiver Gewalt. Sturzbetrunken fallen Kolleginnen und Kollegen orgiastisch übereinander her, vergewaltigen, demütigen, bringen Unschuldige grundlos um - und gehen am anderen Morgen in den Alltag zurück, als sei nichts gewesen.
Alexander Nerlich inszeniert einen exzentrischen Albtraum, bevorzugt Halbdunkel mit Taschenlampen-Spots und fordert den vorzüglichen sechs Schauspielerinnen und Schauspielern ein hohes Maß an Körpersprache ab. Starker Zuspruch des Premierenpublikums auch hier für das Ensemble sowie den anwesenden Autor.«
» (...) Sie wollen bei einer Betriebsfeier in der freien Natur die Sau rauslassen. Wie die Firmenmenschen in den Sog ihrer tierischen Natur geraten – alle Jahre wieder – ist das Gegenteil des idyllischen Naturevents, das sie suchen.
In der kongenialen Inszenierung von Alexander Nerlich erwies sich ›Grillenparz‹ des jungen österreichischen Dramatikers Thomas Arzt als intensives, düsteres, vielschichtiges Schauerdrama über Schuld und Verdrängung.
Am Samstag war im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt Premiere. Eine Entdeckung!
(...) das Theaterstück des jungen österreichischen Dramatikers Thomas Arzt, das 2011 im Schauspielhaus Wien uraufgeführt wurde, ist mehr als ein realistisches Sozialdrama im Unternehmensmilieu. Es ist eine neue Art von Volksstück, das den Bogen schlägt zum romantischen Schauerdrama und hinter den üblichen betriebsinternen Machtspielen und gruppendynamischen Kontrollverlusten doppelbödig die Urängste und archaischen Bedrohungen der menschlichen Natur offenlegt - und möglicherweise Assoziationen zur deutsch-österreichischen Vergangenheit weckt.
Der Grillenparz ist die Schnittstelle zwischen Zivilisation und Natur, hier brechen sich die bestialischen Begierden der Menschen Bahn, hier suhlen sie sich in ihren Urinstinkten, hier begegnen sie dem Untoten, dem Wiedergänger, der sie an ihre eigene Schuld erinnert. Diese zentrale Figur aus einer anderen Wirklichkeit ist ein archaischer Waldmensch oder die romantisch-mythologische Figur des ewigen Jägers - und gleichzeitig der Täter und das Opfer des Betriebsfests vom vergangenen Jahr. Ein Chor der Grillen paraphrasiert dazu die Ursuppe der alpenländischen Heimatlyrik.
Gastregisseur Alexander Nerlich war der richtige Mann für das vielschichtige, mysteriöse Stück. Er entwickelt kongenial mit großer Intensität und schaurigen Bildern diese Einbrüche und Ausbrüche des Unheimlichen, Unkontrollierbaren der Bestie Mensch.
Wenn sich die Personalchefin vom toughen Jogging-Outfit ins fesche Dirndl und auch die anderen in schicke Städter-Tracht verkleiden und Bierbänke und Maßkrüge gebracht werden, wird für wenige Augenblicke Heimatfolklore zitiert. Das Umfeld aber ist die geheimnisvoll bedrohliche Düsterkeit jenseits der zivilisatorischen Konvention und Kontrolle. Ein toter Hase hängt von der Decke, über einem Wasserloch liegende Äste verdecken die Stelle, an der die Leiche vom Vorjahr vermutet werden kann. Die Äste werden zu Baumstangen aufgerichtet. Immer wieder kippt die Szenerie, wenn die Figuren urplötzlich mit Tiermasken agieren oder in einem orgiastischen Tanz übereinander herfallen.
Kraftvoll beängstigende Bilder und Smalltalk-Ton, Gegenwart und verdrängte Erinnerung, Firmenintrigen und gespensterhafte Begegnungen machen ein brüchiges Geflecht an Wahrnehmungsebenen auf. Großartig auch die Soundcollagen von Malte Preuß, die von den Darstellern erzeugte Geräusche oder Gesänge, surreal verdichten.
Der Bühnenbildner der Produktion und erfahrene Residenztheater-Schauspieler Wolfgang Menardi ist kurzfristig für den verletzten Anjo Czernich als der geheimnisvolle Jäger eingesprungen. Ein kraftvoller Schauspieler und ein Glücksfall an faszinierender Ausstrahlung dieser mysteriösen Figur. Carolin Schär ist als Flora ebenso zerbrechlich wie hartnäckig der schmerzhaften Erinnerung auf der Spur. Victoria Voss spielt die harte Karrieristin mit der Sehnsucht nach weiblicher Zuneigung. Ralf Lichtenberg, Jan Gebauer und Leonie Merlin Young haben ebenfalls individuelle Figuren erfunden und zeigen hervorragend die Brüchigkeit zwischen Firmennormalität, Verdrängung und den Abstürzen in die Brutalität der menschlichen Natur.
Eine großartige, packende Aufführung eines vielschichtigen Stücks. Autor Thomas Arzt ist zur Premiere letzten Samstag nach Ingolstadt gekommen und war sichtlich berührt, wie das Ingolstädter Team die vielen Spuren seines Stücks sichtbar gemacht hat.«