Kasimir und Karoline
Ein Volksstück von Ödön von Horváth
»In unserer Zeit«, kurz nach der Weltwirtschaftskrise 1929. – Man muss das immer trennen, die allgemeine Krise und das Private – aber was Karoline so erschreckend klar formuliert, scheint bei ihr selbst so gar nicht zu klappen. Ausgerechnet an dem Tag, an dem ihr Verlobter Kasimir arbeitslos wird, stellt sie die gemeinsame Liebe in Frage. Dabei hatte sie doch eigentlich nur ein Eis essen wollen auf dem Oktoberfest und vielleicht auch einmal Achterbahnfahren – doch nur ein bisschen Spaß haben, wo es doch sonst nicht so viel zu lachen gibt in ihrem Leben. Aber Kasimir mit seinem akuten Hang zur Depression kann ihr an diesem Abend keine Ablenkung bieten – und prompt trennen sich die beiden nach heftigem Beziehungsstreit. Die hübsche Karoline lässt sich aufheitern von den vermeintlichen Upper-Class-Herren Rauch und Speer; Kasimir findet sich im Bierzelt wieder neben Erna und dem Kleinganoven Merkl Franz, der sein Unglück teilt. Zwischen Arbeitslosen und Aufschneidern, Glücksuchern und Einsamen, Betrunkenen und Verzweifelten trudeln Kasimir und Karoline quer über den Rummelplatz. Die Sehnsucht nach einem besseren Leben wird sie nicht mehr zusammenbringen. Am Ende braucht es dann wohl doch mehr als eine Kugel Eis.
mit: Anjo Czernich (Kasimir), Enrico Spohn (Eugen Schürzinger), Denise Matthey (Erna), Jan Gebauer (Merkl Franz), Sascha Römisch (Konrad Rauch), Ulrich Kielhorn (Werner Speer), Marie Ruback (Elli), Patricia Coridun (Maria), Peter Reisser (Ausrufer), Joana Tscheinig (Rosa), Denise Matthey (Juanita), Peter Pichler (Musiker)
- Regie:
- Hüseyin Michael Cirpici
- Kostüme:
- Sigi Colpe
- Musikalische Leitung und Komposition:
- Dürbeck & Dohmen
- Dramaturgie:
- Sophie Scherer
- Regieassistenz:
- Verena Wagner
- Inspizienz:
- Annette Reisser
- Soufflage:
- Susanne Wimmer
Premiere am
Großes Haus
»Von wegen Oktoberfest-Gemütlichkeit! Es ist eine kalte, raue, herzlose Wies’n, in die Regisseur Hüseyin Michael Cirpici seine Inszenierung von Ödön von Horváths ›Kasimir und Karoline‹ gesetzt hat. Am Samstag hatte sie im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt
Premiere.
Ausstatterin Julia Scholz baute für Cirpici eine niedrige, alle und alles niederdrückende Bühne, mit nur ganz wenigen Requisiten. Sie hat damit den vom Regisseur vorgegebenen, an Bertolt Brecht erinnernden Stil gekonnt visuell gespiegelt: Alle Personen sind irgendwie gefangen – in ihrer Zeit, in sich selbst und ohne eine richtige Zukunft vor den Augen. Bezeichnend dafür Karolines Erkenntnis gegen Ende des Stücks: ›Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln nd das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.«
›Kasimir und Karoline‹, im November 1932 in Leipzig unter der Zweitüberschrift ›Ein Abend auf dem Oktoberfest‹ erstaufgeführt und ursprünglich in der Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929 in Deutschland spielend, hat auch heutzutage nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Die Perspektivenlosigkeit, insbesondere der beiden titelgebenden, nach Liebe und Glück suchenden Hauptpersonen, ist für Cirpici symptomatisch für viele junge Menschen auch in unserer Zeit. Cirpici hat dies unsentimental und hart herausgearbeitet. Er skelettierte und verdichtete den Horváthschen Text, befreite ihn dabei von jeglichen romantischen Ansätzen – im Original ohnehin nur spärlich vorhanden – und reduzierte ihn so auf nur 80 Minuten Spielzeit.
Das Ensemble auf der Bühne ordnete sich diesem in sich stimmigem Konzept diszipliniert unter. Bis in die Nebenfiguren sind alle Charaktere trefflich besetzt. In den Titelrollen beeindrucken Carolin Schär (Karoline) und Anjo Czernich (Kasimir) mit ihrem schnörkellosen Agieren in dieser – von Horváth so selbst einmal bezeichneten – ›Ballade voll stiller Trauer‹. Viel Schlussapplaus.«
»Wieder ein ungewöhnlicher Zugang zu einem bekannten Theaterstück.
Wie bei der Inszenierung des ›Amphitryon‹ in Ingolstadt durch dasselbe Regie-Team, ist auch Horvaths ›Kasimir und Karoline‹ von einer dichten Atmosphäre geprägt, die der Bühnenraum vorgibt. Waren es bei ›Amphitryon‹ schwarz spiegelnde Wasserflächen, haben Regisseur Hüseyin Michael Cirpici und seine Ausstatterin Julia Scholz für Ödön von Horvaths Volksstück, das während der Weltwirtschaftskrise 1929 auf dem Münchner Oktoberfest spielt, die düstere Einheitsatmosphäre einer alptraumhaften Wüstenei geschaffen.
Die wirtschaftliche Depression hat die Seelen der Menschen ergriffen und das Oktoberfest in eine Manege der Trostlosigkeit verwandelt.
Wie Traumwandler tauchen die Menschen auf der mit Torf bedeckten Bühnenschräge auf. Der weiche Boden dämpft die Schritte. Jahrmarktsfiguren mit geschminkten Clownsmasken wie Peter Reisser oder Joana Tscheinig, eine Unglücksgöttin der Vergnügungsstätte, umkreisen in Zeitlupe das Bühnenpodest oder skandieren wie dämonische Einflüsterer ein Trinklied.
Doch in dieser Ödnis der Unglücklichen lassen sich sehr eindringlich die Begegnungen der jungen Menschen erzählen.
Wunderbar intensiv holen Anjo Czernich und Carolin Schär als Kasimir und Karoline, Enrico Spohn als Schürzinger und Jan Gebauer und Denise Matthey als Kleinganovenpärchen die Liebessehnsucht und Hoffnungen, die Hilflosigkeit, die Missverständnisse, die Ernüchterung und Einsamkeit ihrer Figuren in den Fokus. Hervorragend kommen sie mit der Horvathschen Sprache zurecht, diesen Sätzen, die mal als sprachlos-naive Gemeinplätze berühren, mal als Ewigkeitsformulierungen nachklingen.
Sascha Römisch und Ulrich Kielhorn verkörpern mit schöner Drastik die Oberschichtherren, die mit obszöner Lust den Überlebenshunger der Mädchen ausbeuten, die sich ihnen wie Patricia Coridun und Marie Ruback als Prosituierte wider Willen neugierig oder mit verzweifeltem Ekel ausliefern.
[…]
Das zeitlos eindrucksvolle und immer wieder neu grandios beleuchtete Bühnenbild lullt aber mit seiner schönen Tristesse auch ein wenig ein. Man kann sich einschwingen auf die Magie, mit der Joana Tscheinig das Theremin spielt, als würde sie mit ihren Armbewegungen nicht nur dem elektromagnetischen Feld Tonschwingen entlocken, sondern auch Kasimir und Erna, Karoline und Eugen, die neuen Paare, an unsichtbaren Fäden leiten.
Am Ende senkt sich die Glasplatte bedrohlich ab, gaukelt den beiden Paaren aber auch den Schutz einer Dachstube fürs private Glück vor: wiederum ein wundersames, fast tröstliches Bild.«
»Einer seiner [Horváths] Klassiker, ›Kasimir und Karoline‹ ist jetzt im Stadttheater in Ingolstadt zu sehen – und beweist einmal mehr, wie kluge Regie die Aktualität dieser Stoffe geradezu atemberaubend auf die Bühne stellen kann.
Der Chauffeur Kasimir ist in Folge der Wirtschaftskrise entlassen worden, seine Liebste Karoline versteht seinen Schockzustand nicht. Vor dem Hintergrund des Münchner Oktoberfests sucht sie das Amüsement, während er rasch mit den Folgen seines sozialen Abstiegs konfrontiert ist.
(…) Horváth spielt die möglichen Kombinationen durch und entlarvt die trotzdem weiter bestehenden ökonomischen Machtverhältnisse und sozialen Klüfte, die, je tiefer sie sind, eine Gesellschaft regelrecht zerfetzen können.
Das ist die Kernbotschaft. Und Regisseur Hüseyin Michael Cirpici arbeitet sie klar heraus, indem er allen Naturalismus aus dem Stück entfernt und die Szenerie in ein surreales Umfeld bettet, mit bühnengestalterischen Anklängen an die Kunst der 20er (eine Bühne als Zirkusrund von Julia Scholz), oft gespreiztem Schreiten und Schweben der Protagonisten im Hintergrund und der Klan- und Geräuschkulisse des als Musiker mit auf der Bühne stehenden Peter Pilcher.
Durch diese abstrakte Verzerrung an den Rändern kommt der konkrete Kern dieses Volkstheaterjuwels besonders zum Leuchten. Cirpici verstärkt dergestalt Horváths Desillusionierungsmaschinerie, und das Ingolstädter Ensemble verleiht ihr weiter Schwung – mit Carolin Schäfer als nahezu verzweifelt nach dem Amüsement suchender süßer Karoline und Anjo Czernich als ebenso verzweifelt um Haltung bemühtem Kasimir. Enrico Spohn ist ein überaus glatter Kasimir-Nebenbuhler Eugen Schürzinger mit zuletzt fast diabolischen Anwandlungen, Sascha Römisch als Konrad Rauch und Ulrich Kielhorn als Werner Speer sind zwei lüsterne Ekelpakete aus der Honoratiorenschicht.
Ein ganz besonderes Duo mit der Strahlkraft des Verkommenen bilden Jan Gebauer als Merkl Franz und Denise Matthey als seine Erna: die dunklen Zentralgestirne einer düsteren Geschichte.«