Onkel Wanja

»Ausgemergelte Zeit: Donald Berkenhoff setzt diesen Zustand zu Beginn nahezu genüsslich in Szene. Da hocken Sascha Römisch als Wanja, Ralf Lichtenberg als Arzt Astrow und Tobias Hofmann als mittelloser Gutsbesitzer Telegin eine sehr lange Weile träge herum; ächzen höchstens einmal oder schlagen eine Taste auf dem Klavier an. Im Auge des Orkans ist es ruhig - das Landgut von Wanjas verstorbener Schwester ist dieses Zentrum. Bei Berkenhoff und dem Bühnenbildner Fabian Lüdicke ist es zunächst ein bis an die Rampe vorgezogener, mit Möbeln und Gemälden vollgepferchter dunkler Salon im Gründerzeit-Stil. »Gruftstätte« wird das Landgut im Drama genannt. Man könnte es auch ein russisches Geisterhaus nennen, jedenfalls stecken die Schauspieler in der typischen weißen Kleidung jener dekadenten Jahre unmittelbar vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Wenn sie sich denn bewegen, dann schleichend. Erst der Wodka, den Männer wie Frauen einmal in sich hineinschütten dürfen, haucht ihnen für einen Moment Leben ein. Schenkt ihnen Körperlichkeit. Das ist einleuchtend gedacht und gezimmert, malt aber trotzdem das Schreckgespenst einer langweiligen Klassiker-Inszenierung an die Wand. Aber das täuscht. Im Verlauf der Aufführung ächzt es im Kulissengebälk, schiebt sich allmählich die eine Wand nach hinten, eine andere zur Seite. Bis schließlich die Bühne leer ist, und der Zuschauer sich einem kalten Raum mit nurmehr einer Stuhlreihe gegenübersieht - Tschechow als Vorläufer des absurden Theaters. Auch die Schauspieler, allen voran Sascha Römisch sowie Ulrich Kielhorn als Professor Serebrjakov setzen jetzt bei ihrer Darstellung von Depression und Hypochondrie nicht mehr auf Realismus, sondern angesichts der Sinnlosigkeit des Lebens auf Clownerie. Donald Berkenhoffs Inszenierung, von einem starken Ensemble umgesetzt, besticht. Sie zeigt das Auseinanderbersten einer im wahrsten Sinne überholten Gesellschaft, die mit der Zeit nicht mehr mitkam. Und öffnet sodann den Blick weit ins 20. Jahrhundert, das Zeitalter der Extreme.«

»Das von seinem Verfasser als »Komödie« bezeichnete melancholische Zwei-Stunden-Werk hatte nun im Großen Haus des Ingolstädter Stadttheaters heftig beklatschte Premiere. […] Im hintersten Russland, in einem Landgut, das eher einem Gefängnis gleicht (Bühnenbild: Fabian Lüdicke, Kostüme: Andrea Fisser), leiden alle vor sich hin: Titel-»Held« Wanja (Sascha Römisch) an der Dummheit seiner Mitmenschen und am Ausgenutztwerden, dessen Nichte Sonja (Teresa Trauth) an ihrer Hässlichkeit, die schöne Jelena (Patricia Coridun) unter der Tyrannei ihres alten und eitlen Ehemanns (Ulrich Kielhorn), der desillusionierte Arzt (Ralf Lichtenberg) an der Visionslosigkeit seiner Mitmenschen. Regisseur Donald Berkenhoff führt sie alle (und dazu noch Kathrin Becker, Karlheinz Habelt sowie Tobias Hofmann) sensibel und präzise, zeigt facettenreich die Kanten und menschlichen Risse der Bühnenfiguren auf. Mit deutlich erkennbarer Sympathie für sie und ihre innerliche Zerrissenheit führt er die verzweifelten und letztendlich doch erfolglosen Aufbäumversuche gegen selbst auferlegte Zwänge vor. «

»Am Stadttheater Ingolstadt hat Regisseur Donald Berkenhoff nun einen besonderen Zugriff auf das Stück gefunden: Es beginnt in einer Landhausszenerie des 19. Jahrhunderts (Bühne: Fabia Lüdicke), die immer mehr verschwindet. Die Welt verfällt, die Menschen in ihr können nicht wegrennen vor ihrem Unglück, es aber zugleich nicht mehr ertragen. Es kommt zu grusligen Wodka-Exzessen. Der Rhythmus ist die Langeweile. Ein für das Publikum durchaus schwieriger Rhythmus, begreifbar bleibt die Geschichte aber durch die Einzelleistungen der Spieler. Sascha Römisch ist in der Titelrolle ein begnadeter Finsterling, dessen Liebe eher einem Überfall gleicht, Ralf Lichtenberg als dessen Gegenspieler und Rivale Astrow dagegen ist ein großer Charmeur. Ganz im Zentrum aber steht Teresa Trauth als Sonja: Sie wirkt auf der Bühne so dünnhäutig, dass man jede Verletzung deutlich spürt, die ihr das Leben zufügt, und man die große Trauer ausmessen kann, die ihr die Liebe zu Astrow verursacht. In ihr wird diese große Lebenstrauer deutlich, von der Tschechow erzählt — und zugleich der Mut, trotzdem immer weiterzumachen. Berkenhoffs Inszenierung ist geprägt von rasendem Stillstand.«

»(...) Regisseur Donald Berkenhoff erzählt mit ›Onkel Wanja‹, wie sich Tschechows Figuren mit ihren Sinnkrisen aus dem zaristischen Landhaus in einer ortlosen Moderne wiederfinden. Eine großartige Inszenierungsidee, die in einer dichten Aufführung schlüssig umgesetzt wurde. Es beginnt so nostalgisch, wie sich manche die Bühnendarstellung von Tschechow und das gepflegte Nichtstuerleben der besseren Gesellschaft im vorrevolutionären Russland erhoffen. (...) Bühnenbildner Fabian Lüdicke hat einen detailverliebten Wohnraum des zaristischen Gutshofs auf die Bühne gestellt (...). Doch während diese Gesellschaft in der russischen Provinz die unerträgliche Stagnation ihres Lebens bejammert, rücken die Wände Schritt für Schritt auseinander, bis sie schließlich, wie die Möbel, ganz verschwinden. Die gesamte Bühne fährt nach oben, und schließlich stehen die Figuren auf dem nackten Podest, auf leerer Bühne. Kein schützender Raum mehr, keine behagliche Atmosphäre. (...) (...) Sie sind unfähig zur Veränderung und merken nicht, dass, in Berkenhoffs Inszenierung sichtbar, die Welt um sie herum auseinander bricht und sie in orientierungsloser Leere zurücklässt. Nichts gibt mehr Halt. Nur Vasilij, der treue Diener, schleppt noch immer den Samowar als symbolisches Relikt aus vergangener Zeit mit sich herum, ein Relikt auch eines Inszenierungsstils, der der Vergangenheit angehört. Und so wie sich die Bühne im Verlauf des Abends vom Naturalismus in einen illusionslosen Realismus bis zur Abstraktion verwandelt, ändert sich auch die Art der schauspielerischen Darstellung von der Rollenidentifikation in eine zunächst modern extrovertierte und schließlich brechtisch distanziertere Spielweise. Von Stanislawski über Meyerhold zu Marthaler. Die gesellschaftlichen Konventionen eines gepflegten Umgangs miteinander sind weg gebrochen und nun sitzt man nicht mehr vornehm beim Tee, sondern wälzt sich auf dem Boden, explodiert in wildem Tanz oder Gesang. Sascha Römisch setzt sich als resignierter und lebensüberdrüssiger Onkel Wanja am Schluss in Bewegung und läuft sinnlos immer schneller im Kreis: Regisseur Donald Berkenhoff hat den ›rasenden Stillstand‹, als diesjähriges Spielzeitmotto eine Befindlichkeits-Diagnose der Gegenwart, auf Tschechow übertragen und erzählt mit seiner schlüssigen Inszenierung, dass die Hoffnung des Landarzts Astow, die Menschen würden in 100 Jahren glücklicher sein, nicht aufgegangen ist. ›Wir haben weder Nah- noch Fernziele, unser Herz ist wie leergefegt‹, schrieb Tschechow. Die Kostüme von Andrea Fisser machen die allmähliche Veränderung in die Moderne fast unmerklich mit, denn die Grundfarbe bleibt weiß. Aus den historischen Anzügen, Miedern und Rüschenröcken werden Pullis und T-Shirts. Sie mögen Wodka saufen bis zum Exzess oder verzweifelt übereinander herfallen, sie alle haben liebenswerte Züge, die unser Mitgefühl wecken. Sascha Römisch als Wanja ist ein unglücklicher Clown und melancholisch in seinem Hass. Ralf Lichtenberg als frustrierter und gefühlsabgestumpfter Landarzt, der sich über die Zerstörung der Umwelt empört und mutwillig sich selbst zerstört, entwickelt durchaus Sensibilität gegenüber Jelena. Wanjas Mutter von Kathrin Becker, in ihrer Verehrung für den Professor unbeirrbar, bewahrt Haltung. Und selbst der alle terrorisierende Professor von Ulrich Kielhorn zeigt die Hilflosigkeit der Lebensbewältigung. Patricia Coridun verkörpert wunderbar die unnahbare Schöne aus dem 19. Jahrhundert und schließlich eine moderne Frau, die in verzweifeltem Übermut mit ihrer Stieftochter Brüderschaft trinkt, sich neckisch-verspielt um das Liebesleid ihrer Rivalin sorgt und mit großer Nachdenklichkeit und Mutlosigkeit ihr tristes Eheleben fortsetzt. Aus der Amme hat Berkenhoff den langjährigen Diener Vasilij gemacht, der den Menschen mit Lindenblütentee zu ein bisschen mehr Glück zu verhelfen versucht. Logisch, wenn man dafür eine solche Traumbesetzung hat wie den wunderbar warmherzigen Karlheinz Habelt. Die Tragödie hat auch komische oder zumindest tragikomische Akzente: Sascha Römisch kriecht im Suff auf der Suche nach einer weiteren Wodka-Flasche durch die Türen der Anrichte. Teresa Traut spielt die unglückliche Sonja ganz und gar nicht als religiöse Dulderin. Ihre Liebesverzweiflung ist eine Selbstmitleids-Heul-Arie hart an der Grenze zur komischen Selbstdarstellung. Und der verarmte Verwandte von Tobias Hofmann klimpert müde und vom Leben erschöpft nur hie und da einige Töne oder Akkorde am Klavier und setzt, in einer hochdramatischen Situation, zu einer umständlichen Erklärung seiner Verwandtschaftsverhältnisse und des früheren Speiseplans an.Ebenfalls eine rührend komische Figur. Das letzte Wort hat bei Berkenhoff nicht wie bei Tschechow Sonja, die sich und ihren Onkel tröstet bzw. mit dem Jenseits vertröstet – sondern der Bagger. Berkenhoff zeigt ein Greenpeace-Video über die Umweltzerstörung durch den Menschen von grauenhaft zerfurchter Erde und lässt dazu den Arzt seine Umweltschutzwarnung wiederholen. Die prophetische Gesellschaftsanalyse Tschechows wird damit etwas plakativ auf ein Thema reduziert. Doch zuvor hat diese Inszenierung die Begabung des Menschen zum Unglücklichsein, zur Vernichtung und Selbstvernichtung, nicht nur im vorrevolutionären Russland, eindringlich vor Augen geführt.